Frau Rietzler, Sie haben gemeinsam mit Herrn Grolimund den Ratgeber „Clever lernen“ geschrieben. Darin finden Schülerinnen und Schüler u. a. Tipps, wie sie ihrem Gehirn dabei helfen können, sich schulische Inhalte besser zu merken. Das klingt spannend! Haben Sie ein Beispiel für solch einen Tipp?
Stefanie Rietzler: Ein sehr wichtiger, aber vielleicht etwas ungewöhnlicher Tipp ist der folgende: Wir lernen sehr viel mehr, wenn wir Wissen aus dem Gedächtnis abrufen, als wenn wir es erneut einspeichern. Viele wissenschaftliche Studien konnten das bestätigen und sprechen vom Testing-Effekt. In diesen Studien werden Personen in zwei Gruppen eingeteilt. Beide lesen einen Text. Eine Woche später darf Gruppe 1 den Text nochmals lesen, Gruppe 2 muss versuchen, sich an den Text zu erinnern, und Fragen dazu beantworten. Fünf Wochen später gibt es einen Test. Die Ergebnisse zeigen: Gruppe 2 kann sich an deutlich mehr erinnern.
Fabian Grolimund: Für das Lernen im Alltag bedeutet das: Lies einen Abschnitt oder eine Seite und frage dich dann, was du soeben gelesen hast. Versuche dich an möglichst vieles zu erinnern. Das ist erheblich hilfreicher, als den Text einfach mehrmals zu lesen. Wenn du dir das Schriftbild von Vokabeln merken musst: Schau sie dir genau an. Was ist schwierig daran? Wie kannst du dir das merken? Schließe dann die Augen und versuche dir das Schriftbild vorzustellen. Schreibe die Vokabel anschließend auf oder buchstabiere sie jemandem. Das bringt viel mehr, als sie fünfmal gedankenlos abzuschreiben.
Nehmen wir einmal eine ganz konkrete Situation, die sicherlich viele Kinder und Jugendliche kennen: Man nimmt sich an einem Samstagnachmittag Zeit, um für die anstehende Mathematikarbeit zu üben. Gleichzeitig stehen aber noch Hausaufgaben in Englisch, Erdkunde und Deutsch an. Wie kann man einen solchen Nachmittag gestalten? Was ist dabei zu beachten?
Fabian Grolimund: Ein Prinzip, das man dabei nutzen kann, lautet: Lerne ähnliche Fächer nicht hintereinander. Lerne 30 Minuten Erdkunde, löse dann ein paar Mathematikaufgaben und erledige danach die Hausaufgaben in Englisch.
Stefanie Rietzler: Dabei ist es hilfreich, wenn man mehrere kurze Lernsprints hinlegt anstatt einen Lernmarathon. Also vielleicht: 30 Minuten lernen, 5 Minuten Pause, 30 Minuten lernen, dann Freizeit und später nochmals 30 Minuten lernen. Ein konkretes und herausforderndes Mini-Ziel hilft dabei, sich zu aktivieren. Man könnte sich z. B. sagen: „In 30 Minuten will ich diese drei Seiten aus dem Geschichtsbuch so gut verstanden und mir das Wesentliche gemerkt haben, dass ich die Lernzielfragen dazu beantworten kann.“
Fabian Grolimund: Es ist hilfreich, wenn man in den Pausen etwas macht, bei dem man sich nicht in etwas anderes vertieft: etwas trinken, eine Kleinigkeit essen, kurz an die frische Luft gehen oder sich bewegen, die Katze streicheln – und dann weitermachen. Übrigens: Wer in der Pause ans Handy geht, der behindert sein Gehirn dabei, das neu Gelernte zu festigen. Das ist fast so, als würde man auf die Löschen-Taste drücken. Falls man über die nötige Selbstdisziplin verfügt, sollte man das Handy nach dem Lernen noch 30 Minuten liegen lassen.
Gibt es auch allgemeine Tipps zur Gestaltung des Arbeitsplatzes? In Sachbüchern und im Internet findet man ja teilweise sehr genaue Vorgaben dazu: von der Tischhöhe über die Neigung der Rückenlehne bis hin zur Richtung, aus der das Licht einfallen sollte…
Stefanie Rietzler (lacht): Manche Eltern kaufen zum Schulbeginn ein Pult mit optimalem Stuhl, der passenden Beleuchtung und allem Schnickschnack ‒ und sind dann frustriert, dass ihr Kind genau dort nicht gerne lernt.
Fabian Grolimund: Viele Kinder lernen am besten in neutralen Räumen: in der Küche oder im Wohnzimmer. In ihrem eigenen Zimmer müssen sie ständig dagegen ankämpfen, etwas anderes zu tun. Dort locken der angefangene Naruto-Comic, die Lego-Burg usw. Zudem sind viele Kinder im Grundschulalter beim Lernen nicht gern allein und können sich besser konzentrieren und selbstständiger lernen, wenn sie womöglich in der Küche die Hausaufgaben erledigen, während ein Elternteil kocht.
Stefanie Rietzler: Sucht ein Kind die Stille im eigenen Zimmer, spricht natürlich nichts dagegen. Aber Eltern tun gut daran, sich hier von fixen Vorstellungen zu lösen und gemeinsam mit dem Kind ein wenig zu experimentieren.
Für etwas ältere Schülerinnen und Schüler ist es häufig ein Problem, dass sich Arbeiten und Tests in bestimmten Phasen des Schuljahres häufen und sehr viel auf einmal zu tun ist. Wie kann man in solchen Zeiten den Überblick behalten?
Fabian Grolimund: In diesen Phasen gilt oft: Es reicht nie für alles, aber immer für das Wesentliche.
Stefanie Rietzler: Viele Jugendliche beachten die Lernziele zu wenig. Es lohnt sich, sich vor den Prüfungen mit den folgenden Fragen zu befassen: Was genau wird geprüft? Habe ich dazu Lernziele? Oder wird aus bisherigen Prüfungen meiner Lehrkraft ersichtlich, wie sie prüft und vorauf sie Wert legt? Indem man sich in der Folge auf das Wichtigste fokussiert, lässt sich oft mit weniger Aufwand mehr erreichen.
Fabian Grolimund: Ein kleiner, aber wichtiger Tipp: Schülerinnen und Schüler sollten sich nicht nur den Tag der Prüfung in den Kalender eintragen, sondern auch die Tage, an denen sie sich darauf vorbereiten möchten. Häufen sich dann Prüfungen, sehen sie im Kalender, dass sie nun etwas früher mit dem Lernen beginnen sollten, damit sie genügend Zeit haben, um mehrere Prüfungen parallel vorzubereiten.
Auch bei noch so guter Vorbereitung haben einige Kinder und Jugendliche mit Prüfungsangst zu kämpfen. Was kann man tun, wenn man Angst vor einem „Blackout“ in der Arbeit hat?
Stefanie Rietzler: Prüfungsängste allein führen nicht automatisch zu Blackouts. Wer körperlich aufgeregt ist, kann sich meist genauso gut konzentrieren wie jemand, der die Prüfung ruhiger angehen kann. Es ist wichtig, dass Schüler/-innen das wissen, weil sie sonst normale körperliche Symptome von Aufgeregtheit wie Herzklopfen, schnelles Atmen usw. überbewerten. In der Fachsprache nennt man das auch „Katastrophisieren“: „Mein Herz schlägt wie verrückt! Jetzt fängt das wieder an! So kann ich es eh vergessen!“ u. Ä. Diese Gedanken können dann tatsächlich zu einer Blockade führen.
Fabian Grolimund: Genau. Das, was die Leistung beeinträchtigt, sind nicht in erster Linie die körperlichen Stresssymptome, sondern die vielen Gedanken, die von der Prüfung ablenken. Es ist beispielsweise hilfreich, wenn Kinder und Jugendliche den körperlichen Symptomen mit einer akzeptierenden Haltung begegnen können: „Mein Herz pocht, das darf so sein. Viele sind bei Prüfungen nervös – ich kann trotzdem die Prüfung schreiben.“ Oder wie es mal ein Junge formuliert hat: „Mein Herz schlägt schnell: Es pumpt Blut in mein Gehirn, damit ich gut nachdenken kann.“
Stefanie Rietzler: In unserem Buch ( „Clever lernen“) zeigen wir ganz konkret, wie man verschiedenen Angstgedanken begegnen kann – und haben noch einige andere Tipps für die Vorbereitung und für die Prüfungssituation selbst.
Frau Rietzler, Herr Grolimund, vielen Dank für das Gespräch!
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund leiten in der Schweiz die Akademie für Lerncoaching. Sie bieten Weiterbildungen für Fachpersonen rund um das Thema Lernen an. Für Eltern und Kinder haben die Psychologin und der Psychologe Bücher zu unterschiedlichen Themen geschrieben.