Herr Professor Borg-Laufs, der Umgang mit Motivationsproblemen ist ein sehr komplexes Thema. Gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt „unmotivierte Kinder“?
Wenn man von einem „motivierten“ oder „unmotivierten“ Kind spricht, klingt das ja so, als ob Motivation bei einem Kind ein für alle Mal „vorhanden“ oder eben „nicht vorhanden“ wäre. Das ist meines Erachtens schon irreführend. Tatsächlich ist Motivation ein sehr wechselhaftes und auch gestaltbares Phänomen. Um unterstützen zu können, muss man sehr genau analysieren, wie die individuelle Situation des Kindes oder Jugendlichen ist, mit dem man arbeitet.
Worauf könnte man dabei zum Beispiel achten?
Es ist sicher sinnvoll, sich regelmäßig zu fragen, in welchem Stadium eines Veränderungsprozesses oder eines möglichen Veränderungsprozesses sich ein Kind gerade befindet: Ist ein Kind noch völlig sorglos und begreift Lernschwierigkeiten gar nicht als eigenes Problem, oder ist ihm bereits bewusst geworden, dass sich etwas ändern muss, hat es Vorbereitungen für eine Veränderung getroffen, ist es schon in der Umsetzung oder geht es „nur“ noch darum, eine positive Veränderung aufrechtzuerhalten? Je nach Ausgangssituation des Kindes ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, Veränderungsprozesse zu unterstützen. Prochaska und DiClemente haben solche Überlegungen schon vor vielen Jahren in die Soziale Arbeit und die Psychotherapie eingeführt.
Und dann geht es natürlich darum, im individuellen Fall herauszufinden, was die konkreten Motivationshemmnisse sind: Hat das Kind aktuell eine so belastende Lebenssituation, dass es für die Therapie keinen Kopf hat? Glaubt es nicht daran, dass es durch eigenes Handeln Veränderungen erreichen kann? Misstraut es dem therapeutischen Setting? All das können Gründe sein, einer Therapie fernzubleiben oder nicht aktiv mitzuarbeiten.
Wie kommt es dazu, dass sich Kinder in der Therapie regelrecht verweigern?
Auch das kann viele unterschiedliche Gründe haben. In der Praxis spielt oft eine große Rolle, dass Kinder und Jugendliche nicht aus eigener Initiative eine therapeutische Hilfe aufgesucht haben, sondern von den Eltern, dem Jugendamt, im Fall der Lerntherapie sicher auch von den Lehrkräften, in die Therapie geschickt wurden.
Therapie kann dann als Zwang empfunden werden – und diese Einschränkung der eigenen Autonomie löst möglicherweise die sogenannte „Reaktanz“ aus. Sie wehren sich gegen die Einschränkung ihrer Handlungsspielräume und damit auch gegen die therapeutische Hilfe.
Was kann man in einem solchen Fall tun?
Als Therapeutin oder Therapeut kann man versuchen, sich mit dem Kind oder Jugendlichen gegen den Zwangskontext zu verbünden: „Wie kann ich dir helfen, mich wieder loszuwerden?“ ist dann – in Anlehnung an Marie-Luise Conen – eine sinnvolle Frage.
Gibt es außer dem Bedürfnis nach Autonomie noch weitere Grundbedürfnisse, die man beachten sollte, wenn es zu Motivationsproblemen kommt?
Psychologische Grundbedürfnisse, für die man immer wieder wissenschaftliche Belege gefunden hat, sind neben dem Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, das Bedürfnis nach Schutz und Erhöhung des Selbstwerts und das Bedürfnis nach Bindung.
Daran knüpfen auch die Versuche der Therapeutinnen und Therapeuten an, dem Kind Beziehungsangebote zu machen, richtig?
Genau! Und in diesem Bereich haben Therapeutinnen und Therapeuten wiederum Gestaltungsspielräume. Gelingt es ihnen, Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, echtes Interesse und Kompetenz auszustrahlen und durch ihr Handeln zu beweisen, sind die Voraussetzungen gut, dass ein Kind sich bereitfindet, eine therapeutische Beziehung einzugehen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, zu klären, was die Ziele der Therapie sind, wie die gemeinsame Arbeit strukturiert ist und wer darin welche Rolle hat.
Herr Borg-Laufs, haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Michael Borg-Laufs
Michael Borg-Laufs ist Psychologe, Psychotherapeut und seit vielen Jahren Professor für „Theorie und Praxis psychosozialer Arbeit mit Kindern“ an der Hochschule Niederrhein.
Gemeinsam mit Silke B. Gahleiter und Heiko Hungerige hat er das Buch „Schwierige Situationen in Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen“ geschrieben. Themen, die in diesem Interview angeschnitten wurden, sind außerdem in seinem mit Katja Dittrich gemeinsam herausgegebenen Buch „Psychische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend: Perspektiven für Soziale Arbeit und Psychotherapie“ vertieft dargestellt.
Auf der Frühjahrstagung 2025 der Duden Institute gab Michael Borg-Laufs den Teilnehmerinnen und Teilnehmern viele wichtige Impulse zum Umgang mit Motivationsproblemen.