von Dr. Christiane Wotschack
Das gemeinsame Lesen und Vorlesen von Büchern spielt beim Spracherwerb, in der Sprachförderung und in der Förderung von Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten eine wichtige Rolle.
Sprachförderung durch Vorlesen
Durch Vorlesen werden der Wortschatz, grammatische Satzstrukturen und das Weltwissen erweitert und gleichzeitig die Sprachmelodie und kulturelles Wissen weitergegeben. Häufig verfügen Eltern von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) jedoch selbst nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, um Bücher sinngestaltend und als Modell fungierend vorzulesen. Eine besondere Möglichkeit zur Förderung von Lesekompetenzen in der Zweitsprache Deutsch bieten mehrsprachige Kinderbücher. Unter Einbezug der Erstsprache wird hier ein erster Brückenschlag zur Auseinandersetzung mit DaZ beim Lesen vollzogen und dadurch die Lesekompetenz gezielt gefördert.
Vorhandene Kompetenzen in der Erstsprache nutzen
Wenn der Text zunächst in der Muttersprache gelesen und vollständig verstanden wird, d. h. auch mit den eigenen Erfahrungen verknüpft wird, kann sich das Kind beim Lesen desselben Textes in Deutsch beispielsweise auf einzelne Wortformen, deren Aussprache oder auf Wortstellungen im Satz konzentrieren. Zudem kann ein Kind, das Lesestrategien beispielsweise schon auf Russisch kennengelernt hat, die gleichen Strategien auch auf Texte in Deutsch anwenden.
Die metasprachliche Auseinandersetzung mit der Zweitsprache Deutsch im Kontrast zur Muttersprache ist besonders gut umsetzbar, wenn Texte gleichzeitig in der Muttersprache und in Deutsch angeboten werden. Die Eltern, die Förderkraft oder auch eine muttersprachliche Vorlesestimme (z. B. in einer Leseaufnahme oder in einem Hörbuch) fungieren beim Vorlesen als sprachliches Modell.
Mehrsprachige digitale (Vor-)Leseangebote
Von vielen Kinder- und Jugendbüchern gibt es Übersetzungen, sodass sich durch die Zusammenschau zweier Sprachausgaben eine Mehrsprachigkeit erzeugen lässt. Eine andere Variante, die viele Verlage bereits anbieten, sind parallel mehrsprachige Bücher, die den gleichen Text in zwei oder mehr Sprachen enthalten. Diese Bücher sind für die sprachliche Förderung besonders gut geeignet, da es sich um 1:1-Übersetzungen handelt. Viele dieser Bücher enthalten zusätzlich Audiodateien, die von Muttersprachlern/-innen eingesprochen sind.
Mittlerweile gibt es eine Reihe von kostenfreien Online-Angeboten für mehrsprachige Bücher, von denen einige hier vorgestellt werden:
Das Leseprogramm von Amira bietet 32 Geschichten aus unterschiedlichen Ländern in neun verschiedenen Sprachen an. Die Bücher sind in drei Leseniveaustufen unterteilt und lassen sich auch als Druckdatei herunterladen. In der Online-Version kann per Mausklick zwischen den Sprachen und den entsprechenden Vorlesestimmen gewechselt werden.
Auf der Webseite Mulingula gibt es 12 digital verfügbare Geschichten in sieben Sprachen. Die Texte sind nach Klassenstufen unterteilt und enthalten auch immer die passenden Hörbücher. Die Buchversionen stehen jeweils zweisprachig zur Verfügung.
Die größte Auswahl an mehrsprachigen Büchern bietet der Verein der Bücherpiraten e. V. auf seiner Webseite bilingual-picturebooks an. Auf dieser Plattform bieten Kinder weltweit Geschichten für Kinder an. Zwei von zahlreichen Sprachen lassen sich in einem Buch beliebig auswählen. Alle Bücher können als Druckdatei heruntergeladen werden. Hörbuchversionen liegen hier nur für einzelne Bücher und Sprachen vor.
Alle digitalen Angebote überzeugen durch den leichten Zugang und die einfache Handhabung: Die vielfältigen Geschichten können auch auf dem Smartphone unterwegs gelesen werden, die Vorlesestimme ist per Klick auswählbar.
Fazit
Mehrsprachige Bücher eignen sich besonders zur Förderung der Lesekompetenz von Kindern mit DaZ, weil so alle verfügbaren Sprachen anstatt nur einer Sprache effektiv für den Lernprozess genutzt werden. Der Einsatz mehrsprachiger Bücher in Lerntherapie und Schule kann die Lesemotivation und Lernbereitschaft der Kinder verbessern, da durch den Einbezug der Herkunftssprache die Mehrsprachigkeit des Kindes positiv und wertschätzend berücksichtigt wird. Gleichzeitig bietet das gemeinsame Lesen mehrsprachiger Bücher die Möglichkeit, Eltern und andere Bezugspersonen aus dem Umfeld der Kinder in die Lernprozesse der Kinder einzubeziehen. Durch das Nutzen parallel mehrsprachiger Bücher mit Vorlesestimmen kann das Kind selbstständig Geschichten entdecken, was ein wichtiges Autonomieerleben ermöglicht und das Selbstkonzept der Kinder für das Lesen verbessert. Nicht zuletzt wird selbstverständlich auch bei einsprachig aufwachsenden Kindern oder Förderkräften mit Erstsprache Deutsch die Sprachbewusstheit durch die Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Büchern geschult.
Autorin: Dr. Christiane Wotschack
Dr. Christiane Wotschack ist Leiterin des Fachbereichs Praxis der Duden Institute für Lerntherapie.
Weiterführende Literatur:
BiSS-Trägerkonsortium (Hrsg.). (2020). Leseverstehen kennt keine Sprachgrenzen. Kooperativ und mehrsprachig Texte verstehen Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.
Woerfel, Till (2020). Mehrsprachigkeit gezielt nutzen und fördern Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache.
Jeuk, S. & Aschenbrenner, K.-H. (2021). Deutschunterricht und Sprachförderung mit mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen. Grundlagen, Unterrichtsideen und Planungsinstrumente. Unter Mitarbeit von J. Benz und K. Holdorf. Berlin: Cornelsen.