Von Dr. Astrid Schröder
Vorlesen spielt eine zentrale Rolle in der Leseentwicklung. Regelmäßiges Vorlesen, aber auch das Geschichtenerzählen oder das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern unterstützen lange vor Schulbeginn bereits die Entwicklung des Wortschatzes, des Konzentrationsvermögens, des Hörverständnisses, der Vorstellungskraft und des Einfühlungsvermögens. Studien der Stiftung Lesen und der Lesesozialisationsforschung zeigen, dass Kinder, denen von klein auf regelmäßig vorgelesen wird, einen Startvorteil beim Lesenlernen haben: Sie lernen bei Schulbeginn leichter lesen, empfinden bis ins Jugendalter hinein anhaltend mehr Freude am Lesen und sind insgesamt erfolgreicher in der Schule, weil eine gute Lesekompetenz sich auf das Lernen in allen schulischen Fächern auswirkt. Besonders positiv auf die Entwicklung der Lesefähigkeiten wirkt sich das sogenannte dialogische Vorlesen aus: Hier dient das Vorlesen als Gesprächsanlass, um sich gemeinsam über das Gelesene auszutauschen und z. B. durch Nachfragen mehr über die Gedanken und Vorstellungen des Kindes zu erfahren.
Vorlesen unterstützt das Lesenlernen während der gesamten Schulzeit
Auch wenn die Kinder bereits die Schule besuchen, entfaltet das Vorlesen weiterhin seine positive Wirkung. Da sie zu Beginn des Lesenlernens noch langsam und mühevoll vorankommen, wird das Lesen in dieser Zeit häufig als frustrierend empfunden und das Leseverständnis ist erschwert. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie die Lust am Lesen verlieren und nur noch wenig Motivation für das Lesen vorhanden ist. Regelmäßiges Vorlesen kann in dieser Übergangsphase eine Brücke zum selbstständigen Lesen schaffen, bis die Kinder es so gut beherrschen, dass sie Freude daran entwickeln. Das Vorlesen spielt daher auch im Schulunterricht in der Grundschule häufig noch eine wichtige Rolle. Positive Effekte des regelmäßigen Vorlesens zeigen sich aber sogar über die Grundschulzeit hinaus bis in das Jugendalter hinein, wie ein Forschungsprojekt der Pädagogischen Schule Weingarten zur Leseförderung durch Vorlesen mit Schülerinnen und Schülern in der 8. Klasse zeigt (Belgrad, 2024).
Vorlesen für Kinder mit Leseschwierigkeiten
Kinder mit Leseschwierigkeiten erleben regelmäßig, dass ihnen aufgrund ihrer anhaltenden Schwierigkeiten beim Lesenlernen der Zugang zu Büchern und Texten erschwert ist, die die Mitschüler/-innen aus der gleichen Altersgruppe bereits mühelos lesen. Hier kann das Vorlesen eine wichtige Rolle übernehmen: Dadurch, dass sie beim Vorlesen die Texte nicht selbst lesen müssen, entfällt der Aufwand, den sie für das Lesen der Wörter und Sätze normalerweise aufbringen müssen. Das Arbeitsgedächtnis wird entlastet und es werden Verarbeitungskapazitäten frei, die für das Verstehen des Textes genutzt werden können. Kinder mit Leseschwierigkeiten erhalten durch das Vorlesen die Möglichkeit, altersentsprechende Bücher und Texte, die sie selbst noch nicht lesen können, kennenzulernen.
Vorleserituale zu Hause und in der Lerntherapie schaffen
Die meisten Kinder genießen es, vorgelesen zu bekommen. Vorlesen schafft Nähe und stärkt die Beziehung. Es ermöglicht die Teilhabe an der Lebenswelt Gleichaltriger und kann dazu dienen, eine Vielfalt an Leselektüre kennenzulernen und eigene Leseinteressen zu entwickeln. Der positive Effekt des Vorlesens auf das Lesenlernen kann daher auch für die Förderung in der Lerntherapie genutzt werden: Vorleseeinheiten können als Ritual etabliert und durch weitere Übungen zum gemeinsamen Lesen wie z. B. das Lautlesen im Lesetandem oder Übungen zum Lesesinnverständnis ergänzt werden.
Bei der Auswahl der Lektüre an die Leseinteressen des Kindes anknüpfen
Vorlesen bedeutet dabei nicht nur das Vorlesen aus Büchern: Auch Comics, Mangas, Sachtexte, Kochrezepte, Bastelanleitungen, Leserätsel, Witze, Reiseblogs oder Zeitschriften können ausgewählt werden. Auf diese Weise wird das Lesen und Vorlesen mit den Interessen des Kindes verknüpft und erhält eine kommunikative Funktion und einen Unterhaltungswert, was wiederum die Lesemotivation fördert und stärkt.
Literatur:
Belgrad, J. (2024). Vorlesen – Startimpuls zur Leseförderung. Pädagogik, 5, S. 25‒27.
Stiftung Lesen: Überblick zu den Vorlesestudien der Stiftung Lesen (2009–2023).
Zur Autorin:
Dr. Astrid Schröder ist Leiterin der Abteilung Forschung, Entwicklung und Weiterbildung sowie des Fachbereichs Deutsch