Seit 2007 führt die Stiftung Lesen gemeinsam mit der Wochenzeitschrift DIE ZEIT und der Deutschen Bahn einmal jährlich Studien zur Vorlesepraxis in Familien in Deutschland durch. Wir haben Prof. Simone Ehmig und Lukas Heymann zu den wichtigsten Ergebnissen aus diesen Studien befragt:
Frau Prof. Ehmig, Herr Heymann, seit nunmehr 17 Jahren untersuchen Sie in Ihren Vorlesestudien die Vorlesekultur in Familien in Deutschland. Was waren bislang die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen Studien?
Ehmig: Die Studien zeigen über die Zeit hinweg ‒ besonders seit die Erhebungen als „Vorlesemonitor“ noch besser vergleichbar sind ‒ auf belastbarer Basis, wie es um das Vorlesen in Deutschland bestellt ist. Sie sind eine verlässliche Grundlage für die Arbeit der Stiftung Lesen und anderer Bildungsinstitutionen und zeigen, wie wichtig es ist, dass Eltern ihren Kindern vorlesen. Wir sehen, welche Kinder mit welchen Ausgangsvoraussetzungen besonders durch das fehlende Vorlesen benachteiligt sind. Das sind vor allem Kinder in Familien mit formell niedriger Bildung. Dort wird tendenziell seltener, teilweise auch gar nicht vorgelesen.
Heymann: Ein zweiter wichtiger Faktor ist die eigene Erfahrung, die Eltern in ihrer Kindheit mit dem Vorlesen gemacht haben. Sie spielt eine entscheidende Rolle dafür, ob Eltern später den eigenen Kindern vorlesen oder nicht. Das bedeutet auch: Wenn wir heute Eltern zum Vorlesen motivieren, schaffen wir eine Grundlage dafür und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder später selbst auch der Enkelgeneration vorlesen.
Viele Menschen denken beim Thema „Vorlesen“ an das Vorlesen von Büchern. Welche Aktivitäten zählen Sie auch zum Vorlesen und warum sind diese ebenso förderlich für die Leseentwicklung?
Heymann: Wir sprechen eigentlich lieber vom Vorlesen von Geschichten. Der „Geschichten“-Begriff zeigt, worum es eigentlich geht. Auch Comics, Zeitschriften, Wimmel- und Bilderbücher für die ganz Kleinen eignen sich zum Vorlesen und Erzählen – ebenso wie Geschichten, die man vom Bildschirm ablesen oder mit den Bildern erzählen kann, die auf digitalen Medien verfügbar sind. Wichtig ist, dass Eltern sich die Zeit nehmen und über diese Inhalte mit ihren Kindern in einen Dialog treten, Fragen stellen und Bezüge zum „echten“ Leben herstellen.
Ehmig: Alle diese Vorlese-Aktivitäten fördern das Lesen, weil Sprache im Spiel ist, weil Kinder erleben, dass Geschichten auf allen Trägermedien vermittelt werden können, weil der Wortschatz erweitert wird und grammatische Strukturen vermittelt werden. Beim Vorlesen erleben Kinder auch, wie Texte aufgebaut sind und wie man beim Lesen mit Texten umgehen kann. Kinder sollten erkennen können, dass Texte allgegenwärtig sind, dass es etwas völlig Normales ist zu lesen, immer und überall, wo man ist.
Sie haben auch die Kinder selbst zum Vorlesen befragt. Möchten Kinder und Jugendliche überhaupt, dass Ihnen vorgelesen wird? Welche Gründe geben sie dafür an, dass ihnen das Vorlesen gefällt oder auch nicht gefällt?
Ehmig: Fast alle Kinder finden Vorlesen toll. Dabei spielen vor allem zwei Komponenten eine wichtige Rolle: Zum einen sind die Geschichten selbst mit ihren Figuren wichtig, in die man sich hineinversetzen oder von denen man sich auch distanzieren kann. Zum anderen finden Kinder es toll, wenn die Eltern Zeit mit ihnen verbringen. Gerade diese exklusive Zeit, die Eltern sich für sie nehmen, ist etwas ganz Besonderes für die Kinder. Außerhalb der Familie ist das Vorlesen toll, weil Kinder mit anderen gemeinsam Spaß haben und die Geschichten zusammen erleben, sich gemeinsam gruseln oder lachen können.
Heymann: Kindern gefällt das Vorlesen vor allem dann nicht, wenn die Geschichten nicht in die Situation passen, langweilig sind oder Angst machen. Schwierig ist auch, wenn die Kinder eigentlich gerade etwas anderes machen wollen oder wenn sie sich nicht gut fühlen.
Ehmig: Eltern haben da aber eigentlich meistens ein gutes Gespür für ihre Kinder und merken, wann das Vorlesen passt, welche Geschichte vielleicht nicht so gut gefällt. Hier helfen auch Rituale, z. B. immer beim Zubettgehen eine Geschichte vorzulesen. Und auch für ältere Kinder ist das Vorlesen noch wichtig, um den Übergang zum eigenen Lesen zu gestalten. Hier spielt vor allem weiterhin die gemeinsam verbrachte Zeit eine Rolle. Die Geschichtenauswahl sollte dann natürlich mit dem Kind zusammen erfolgen.
In einer Ihrer Studien haben Sie die Rolle von Vätern in Bezug auf das Vorlesen untersucht. Es hat sich gezeigt, dass in der Familie meist die Mütter das Vorlesen übernehmen. Warum brauchen Kinder auch Vorlese-Väter und wie kann man erreichen, dass mehr Väter Spaß und Freude am Vorlesen entwickeln?
Heymann: Kinder erleben Vorbilder beim Lesen häufiger durch weibliche als männliche Personen: Lesen wird vorgelebt oder vermittelt durch Mütter, Erzieherinnen, Grundschullehrerinnen, Buchhändlerinnen und Bibliothekarinnen. Vor allem Jungen fehlen männliche Lesevorbilder, was dazu führen kann, dass sie Lesen für sich unpassend finden. Viele Studien zeigen, dass Jungen weniger gern und häufig lesen als Mädchen, im Durchschnitt auch häufiger Probleme mit der Lesekompetenz haben. Väter sollten deshalb ebenso selbstverständlich beim Vorlesen aktiv werden wie Mütter. Sie müssen dazu nicht zwingend aus dicken Büchern vorlesen, auch mit Comics oder Zeitschriften, die zu einem Hobby passen, lassen sich Vorlesen, gemeinsames Betrachten und Austausch umsetzen. Ebenso bieten digitale Formate und Apps Möglichkeiten zum gemeinsamen Entdecken oder Vorlesen.
Ehmig: Man muss aber auch sagen, dass 45 % der Väter regelmäßig vorlesen. Damit sind Väter zwar deutlich seltener als Mütter beim Vorlesen aktiv (63 %), aber häufig erschweren die Rollenverteilungen in den Familien den Vätern dieses Engagement. Hier sehen wir gesellschaftliche Veränderungen, die aber sicherlich noch lange nicht am Ende sind.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Lesen Sie gerne vor? Wie wählen Sie die Geschichten aus, die Sie Kindern vorlesen?
Heymann: Ja, tatsächlich lese ich viel und gerne vor. Ich lese natürlich lieber Texte vor, die mir gefallen, die lustig oder spannend sind. Ich lasse mich aber auch auf die Wünsche der Kinder ein und lese Geschichten zum wiederholten Male oder auch Texte vor, die ich nicht so gerne mag, weil ich sie für das Alter der Kinder nicht mehr passend finde. Dennoch finde ich, dass sich Eltern auch diesen Phasen oder Momenten stellen müssen – denn es geht ja vor allem darum, dass es den Kindern Spaß macht.
Frau Prof. Ehmig, Herr Heymann, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Prof. Dr. Simone C. Ehmig leitet seit November 2009 das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.
Lukas Heymann ist dort Projektleiter und hat einige Vorlesestudien sowie seit 2022 den jährlichen Vorlesemonitor betreut.
Hier geht es zu den Vorlesestudien der Stiftung Lesen.