Lese-Rechtschreib-Schwäche

Lesestrategien – eine wichtige Voraussetzung für das Leseverständnis

Worin liegen die Ursache für ein unzureichendes Leseverständnis bei Schülerinnen und Schülern und welche Lesestrategien eignen sich, um vor allem schwachen Lesern zu helfen?

von Marleen Dudjahn, Leiterin des Fachbereichs Englisch der Duden Institute für Lerntherapie

Aufgrund der zunehmenden Prominenz von digitalen Texten in unserem Alltag beschäftigt sich auch die Forschung seit einigen Jahren mit der Untersuchung des Einflusses der Digitalisierung in unser Leseverhalten. In der „Stavanger-Erklärung“ wurden die Unterschiede zwischen dem Leseverständnis von analogen und digitalen Texten aufgezeigt. So scheinen wir beim Lesen, insbesondere von Sachtexten, mit digitalen Endgeräten eher zu einem überfliegenden Lesen zu neigen, worunter das tiefer gehende Textverständnis leidet. Selbst erfahrene Leser zeigen beim detaillierten Erfassen des Inhalts digitaler Texte größere Schwierigkeiten als beim Lesen desselben Textes in gedruckter Form. Für Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, die bereits beim Lesen einfacher gedruckter Texte u. U. Defizite aufweisen, stellt das digitale Lesen daher oft noch eine zusätzliche Herausforderung dar.

Ursachen für unzureichendes Leseverständnis von gedruckten Texten

Betrachten wir zunächst das Lesen von gedruckten Texten: Voraussetzung für ein gutes Leseverständnis ist zunächst eine gut ausgebildete Lesetechnik. Das heißt: Die Schülerinnen und Schüler müssen in der Lage sein, Wörter schnell ganzheitlich zu erfassen, sie in den Satzzusammenhang zu setzen und diesen nachzuvollziehen. In der Praxis lässt sich jedoch häufig beobachten, dass das Leseverständnis nur unzureichend ist, selbst wenn diese Fähigkeit gut ausgebildet ist. Der Grund hierfür können fehlende Lesestrategien sein. Viele Schülerinnen und Schüler lesen „einfach drauflos“ nach dem Prinzip „Augen zu und durch! Ich verstehe sowieso nicht alles“. So beachten sie häufig gar nicht die Überschrift des Textes und brauchen erst mal einige Zeilen, um zu eruieren, um welches Thema es in dem Text überhaupt geht. Weiterhin ist ihnen das Leseziel häufig nicht klar: „Welche Fragen bzw. Aufgaben muss ich überhaupt zu diesem Text beantworten und bearbeiten?“ Die Folge ist meist, dass sie zwar den groben Inhalt des Textes wiedergeben können, Details aber häufig nicht erfasst haben. Die Schülerinnen und Schüler benötigen Handwerkszeug, das sie befähigt, Sachtexte sinnvoll und effektiv bearbeiten zu können. Sie brauchen Lesestrategien.

Welche Lesestrategien sind bei gedruckten Texten sinnvoll?

Es gibt eine Vielfalt von Lesestrategien, deren Einsatz an den Entwicklungsstand des Kindes und natürlich an die Textsorte angepasst werden muss. Das Ziel sollte immer sein, dass die Schülerinnen und Schüler sich Texte effektiv, selbstständig und systematisch erschließen können. Im Wesentlichen kann man zwischen Strategien „vor“, „während“ und „nach“ dem Lesen unterscheiden. Wie oben beschrieben, lesen viele Kinder andernfalls ohne jegliche Strategie schnell los.

Lesestrategien, die bereits vor dem Lesen des Textes zum Tragen kommen, sollen das Kind dazu anregen, Vorwissen zu dem Thema des Textes zu aktivieren und Erwartungen an den Text zu formulieren. Dazu gehört u. a. die Überschrift zu lesen, sich zu fragen „Was weiß ich schon zu dem Thema?“ und „Was möchte ich noch zu dem Thema erfahren?“. Lesestrategien die während des Lesens angewendet werden, dienen hauptsächlich dazu, sich wichtige Kernaussagen zu markieren sowie unbekannte Wörter und nicht Verstandenes festzuhalten und zu recherchieren. Nach dem Lesen des Textes geht es u. a. darum, darüber zu reflektieren, ob die zuvor aufgestellten Erwartungen erfüllt wurden, ihn ggf. mit anderen Texten in Verbindung zu setzen und evtl. Aufgaben und Fragen dazu zu bearbeiten.

Aktive Auseinandersetzung mit dem Text

Die Lesestrategien stellen also Werkzeuge dar, die die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, sich aktiv mit gedruckten Texten auseinanderzusetzen, das tiefer gehende Lesen zu fördern und auch Detailwissen zu erfassen. Vor allem für schwache Leser, die insbesondere komplexen Texten oft hilflos und unmotiviert gegenüberstehen, sind sie ein äußerst wichtiges Hilfsmittel, um diese effektiv zu bearbeiten. Wie bereits dargestellt, birgt das Lesen in digitalen Medien noch größere Herausforderungen, sodass selbst bei erfahrenen Lesern ein eingeschränktes Textverständnis zu beobachten ist. So können beispielsweise in Hypertexten die zusätzlichen Verlinkungen zu weiteren Text-, Bild-, Ton- oder Videoelementen den Lesenden von der Fokussierung auf den Inhalt ablenken und ihn in seinem Lesefluss unterbrechen. Schwache Leser werden diese „Ablenkungsmanöver“ noch dankbarer aufgreifen als die erfahrenen. Umso wichtiger ist, dass sie mit Lesestrategien für gedruckte Texte vertraut sind, damit sie auf diese Vorerfahrungen zurückgreifen können, um die zusätzlichen Herausforderungen digitaler Texte bewältigen zu können.

Über die Autorin Marleen Dudjahn arbeitete mehrere Jahre als Sprachtherapeutin in einer logopädischen Praxis. Während dieser Zeit spezialisierte sie sich auf die Therapie von Lese-Rechtschreib-Schwäche. Nach einer Zusatzausbildung zur Lerntherapeutin leitete sie ab 2007 den Fachbereich Deutsch/Englisch. 2015 wurde für die Englisch-Therapie ein eigener Bereich geschaffen, für den Marleen Dudjahn verantwortlich ist und den sie weiterentwickelt hat.