Seite 2: Bildung fordert einen deutlichen Perspektivenwechsel

Wenn demgegenüber positive Bindungserfahrungen bei Kindern vor allem ein Gefühl der Geborgenheit, des sich Wohlfühlens auslösen und damit lernbedeutsame, komplexe neuronale Netzwerke schaffen sowie gleichzeitig eine Schutzfunktion gegen Kränkungen und Hoffnungslosigkeit, Verlassenheitsängste und Ohnmachtsgefühle bilden, dann kann die Ausgangsthese des schwedischen Kindergarten- und Schulcurriculums (eines Gesamtpakets!) nur mit großer Zustimmung aufgenommen werden:
„Bildung geschieht nur durch Bindung.“

Die pädagogische Praxis zeigt in Deutschland allerdings immer wieder, dass zwar den Ergebnissen der Bindungs- und Hirnforschung eine durchaus hohe theoretische Bedeutung beigemessen wird, Bindungserfahrungen in spannenden Lernumgebungen aber in der Praxis in der beschriebenen Ganzheit und in ihrer Ausprägungstiefe häufig nicht wirklich von Kindern erlebt werden. Das muss sich ändern, um gerade aus den PISA-Ergebnissen (und der für Lehrkräfte überaus bedeutsamen und interessanten Hattie-Studie) die vollständigen (!) Konsequenzen abzuleiten und in der deutschen Pädagogik zu berücksichtigen.

So hat der Bildungsforscher John Hattie in dieser Megastudie sehr deutlich dokumentiert, dass es die Persönlichkeit der Lehrkraft ist, die einen erfolgreichen Unterricht und einen deutlichen Lernzuwachs bei den Schülerinnen und Schülern in Gang setzt. (Dasselbe gilt für Eltern!) Im Gegensatz dazu wird die aktuelle Bildungspädagogik – sowohl in vielen Elternhäusern (Stichworte: überfürsorgliche Eltern, Kurse, Verplanung der Kinder), in vielen Kindertagesstätten (Stichworte: frühe Vorschulpädagogik, didaktisierte Vorschulprogramme) als auch im Schulbereich – völlig anders gestaltet: belehrend statt erfahrungsorientiert, Inhaltsvorgaben statt partizipatorische Lerngestaltung, hierarchisch vermittelnd statt gemeinsam erkundend, didaktisiert statt personenorientiert, generalisierend statt individualisiert, methodenorientiert und funktionalisiert statt alltagsorientiert.

Kinder brauchen stattdessen liebenswerte, beziehungsorientierte, aktive, selbstmotivierte Lernbegleiter/-innen, geduldige und staunende, lernwillige, reflektierende sowie selbsterfahrungsorientierte Akteure, die mit Kindern den Geheimnissen der vielfältigen Lernmöglichkeiten gemeinsam auf die Spur kommen wollen.

Es ist daher dringend notwendig, dass Erwachsene diese Bringschuld selbst annehmen und dafür sorgen, dass die Kindern innewohnende Neugierde aktiviert bzw. aktualisiert wird. Bildung ist immer Selbstbildung. Menschen können, das hat die Bildungsforschung immer wieder gezeigt, nicht gebildet werden.

„Bildung“ – so hat es auch der Europarat schon im Juni 2001 in Göteborg (im sog. Delors-Bericht) verabschiedet – „ist der Kern der Persönlichkeitsentwicklung und der Gemeinschaft. Ihre Aufgabe ist es, jeden von uns, ohne Ausnahme, in die Lage zu versetzen, all unsere Talente voll zu entwickeln und unser kreatives Potenzial, einschließlich der Verantwortung für unser eigenes Leben und der Erreichung unserer persönlichen Ziele, auszuschöpfen.“

Carl Gustav Jung, der bekannte Psychoanalytiker, hat es einmal so formuliert: „Wenn wir bei einem Kind etwas ändern wollen, sollten wir zunächst prüfen, ob es sich nicht um etwas handelt, das wir an uns selbst ändern müssen.“

Fazit
Ein natürliches Lernen ist nur dann möglich und effektiv, wenn alle körperlichen und seelisch-sozialen Systeme aktiviert sind. Ein „unnatürliches“ Lernen, wie es derzeit überall zu beobachten ist, führt zur Unordnung im Gehirn, zur Disharmonie zwischen Wollen und Können sowie zu Lernblockaden und Verhaltensirritationen. Es gilt, nicht die Folgen an Kindern zu betrachten/zu beklagen, sondern für eine Aufhebung der Ursachen zu sorgen.