Herr Professor Jeuk, in Deutschland wächst ein Großteil der Kinder mit mehr als nur einer Sprache auf. Wie erlernen mehrsprachige Kinder das Lesen und Schreiben in der Zweitsprache Deutsch?
Diese Frage lässt sich gar nicht so pauschal beantworten, denn die Gruppe der mehrsprachigen Kinder im deutschsprachigen Raum ist ja sehr heterogen. Kinder, die mindestens drei Jahre eine Kita besucht haben und dort ausreichend Gelegenheit hatten, die deutsche Sprache zu erwerben, haben meist gut entwickelte mündliche Fähigkeiten in der Alltagskommunikation. Diese Kinder erlernen im Wesentlichen die deutsche Schriftsprache genauso wie die einsprachigen Kinder. Besteht diese Möglichkeit nicht, beobachten wir, dass die mehrsprachigen Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung oft einen geringeren Wortschatz in der deutschen Sprache haben als einsprachige Kinder. Das hängt dann vor allem mit der kürzeren Lernzeit zusammen und ist nicht als „Defizit“ einzuordnen. Aber es kann dann auch einen Einfluss auf das Lesen- und Schreibenlernen in der Zweitsprache Deutsch haben.
Einige Kinder, die zu Beginn oder im Laufe der Schulzeit nach Deutschland einwandern, haben bereits in ihrer Erstsprache Lesen und Schreiben gelernt oder erste Kenntnisse dazu erworben. Welchen Einfluss hat dies auf den Erwerb der Schriftsprache im Deutschen?
Die Kinder, die bereits in ihrer Erstsprache literalisiert wurden, können diese Ressource tatsächlich für den Erwerb der deutschen Schriftsprache nutzen. Denn die Kenntnisse über die Schriftstruktur einer anderen Sprache führen meist zu gut ausgeprägten metasprachlichen Kompetenzen, die den Erwerb der deutschen Schriftsprache unterstützen. Im Unterricht sollten daher diese Kompetenzen unbedingt einbezogen werden, z. B. in Form von Sprach- und Schriftvergleichen. Auch im Grammatikunterricht können die Kenntnisse über die Erstsprache aufgegriffen und genutzt werden.
Apropos Grammatik: Bei vielen mehrsprachigen Kindern beobachten wir im Deutschen Schwierigkeiten vor allem in den Bereichen Genus und Kasus, weniger im Satzbau. Woran liegt das?
Der Erwerb der Verbstellung wird von den meisten Schülerinnen und Schülern in der Vor- und Grundschulzeit häufig recht gut bewältigt. Studien zeigen, dass der Erwerb von sogenannten grammatisierten lexikalisch bestimmten Einheiten schwieriger ist. Diese Einheiten sind im Gegensatz zur Wortstellung weniger regelhaft und somit zumindest teilweise eher einzelheitlich zu lernen. Dazu gehören das Genus in Verbindung mit dem Kasus, Formen und Funktionen von Präpositionen und unregelmäßige Verbformen. Im Bereich der Sprachförderung sollten diese Aspekte daher auch immer in die Förderung mit einfließen. In Bezug auf das Genus sollte z. B. beachtet werden, dass mit jedem neu zu lernenden Nomen jedes Mal das grammatische Geschlecht semantisch-lexikalisch erworben werden muss.
Wenden wir unseren Blick auf die Rechtschreibung. Machen mehrsprachige Kinder andere Fehler beim Schreiben als einsprachige Kinder?
Viele Studien zeigen, dass sich die Mehrzahl der Fehler, ich spreche zu Beginn des Schriftspracherwerbs lieber von Normabweichungen, die mehrsprachige Kinder in der Rechtschreibung machen, nicht von denen einsprachiger Kinder unterscheiden. Dies betrifft z. B. Abweichungen in der Laut-Buchstaben-Zuordnung sowie im Bereich Dehnung und Schärfung, der Morphemkonstanz oder der Groß- und Kleinschreibung. Diese Normabweichungen sind wie bei einsprachigen Kindern durch die Gesetzmäßigkeiten der deutschen Schriftsprache zu erklären. Bei Kindern, die bereits in der Erstsprache literalisiert wurden, lassen sich manchmal Übertragungen ihrer Kenntnisse aus der Erstsprache, z. B. das Ersetzen oder Einfügen von bestimmten Graphemen, beobachten. Diese sogenannten Interferenzen betreffen nur einen kleinen Teil der Normabweichungen und sind, ebenso wie die anderen Normverstöße, letztlich als sinnvolle Problemlöseversuche einzustufen.
Dann heißt das im Umkehrschluss, dass mehrsprachige Kinder im Bereich Lesen und Schreiben genauso gefördert werden können wie einsprachige Kinder?
Ja, genau. Mehrsprachige Kinder können im Wesentlichen mit denselben didaktisch-methodischen Verfahren das Lesen und Schreiben erlernen wie einsprachig deutsche Kinder. Zusätzlich sollten aber Aspekte der Sprachförderung mit einbezogen werden. Die Kinder brauchen ausreichend Zeit und Gelegenheiten, um neue Wörter wahrzunehmen sowie ihre Bedeutungen und ihre Verwendung im grammatischen Kontext zu lernen. Außerdem sollten die Kinder immer auch die Möglichkeit erhalten, auf die Ressourcen ihrer Erstsprache zurückzugreifen. Hier spielt der Arbeitsbereich „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ eine zentrale Rolle.
Herr Professor Jeuk, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Prof. Stefan Jeuk
Stefan Jeuk ist Leiter des Sprachdidaktischen Zentrums und Professor am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Spracherwerb und Mehrsprachigkeit, Schriftspracherwerb, Didaktik Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderung und Sprachdiagnostik sowie Anfangsunterricht im Fach Deutsch.
Weitere Informationen zum Thema des Interviews:
Jeuk, S. (2018). Schriftspracherwerb und Alphabetisierung in der Zweitsprache im Grundschulalter. In: Grießhaber, W.; Schmölzer-Eibinger, S.; Roll, H. & Schramm, K. (Hrsg.): Schreiben in der Zweitsprache. Berlin: De Gruyter, S. 49‒62.