von Dr. Lorenz Huck, Fachbereichsleiter Interdisziplinäre Integration
Wer benötigt und wer bekommt lerntherapeutische Hilfe beim Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen?
In der aktuellen Duden-Lerntherapie-Studie (kurz: DLT-Studie) wurden im Rückblick auf die 25-jährige Geschichte der Duden Institute für Lerntherapie Unterlagen zu ca. 1 200 Lerntherapien ausgewertet, die in fünf Berliner Instituten durchgeführt wurden. Die wichtigsten Ergebnisse finden sich in diesem Artikel. Die vollständige Studie kann hier abgerufen werden.
Integrative Lerntherapie – eine effektive Hilfe für Kinder und Familien
Mittlerweile ist es wissenschaftlich gut belegt, dass integrative Lerntherapie Kindern mit einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche ermöglicht, das Lesen, Schreiben und Rechnen zu erlernen. Dadurch werden psychosoziale Belastungen vermindert, die mit extremen Lernschwierigkeiten einhergehen. Erheblichen negativen Langzeitfolgen wird vorgebeugt (vgl. z. B. Bender et al., 2017).
Unter bestimmten Bedingungen übernehmen Jugend- und Sozialämter die Kosten für eine integrative Lerntherapie im Rahmen einer Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII. In unabhängigen Untersuchungen erweist sich die integrative Lerntherapie als wirksamste Maßnahme der Jugendhilfe: Verglichen mit anderen Maßnahmen der Wiedereingliederungshilfe und der Hilfen zur Erziehung verlaufen integrative Lerntherapien stabiler und haben die größten positiven Effekte (Tornow, 2013, 28). Gleichzeitig ist integrative Lerntherapie kostengünstig: 2015 waren in Berlin ca. 49 % aller Eingliederungshilfen integrative Lerntherapien, diese verursachten jedoch nur ca. 9 % der Kosten in diesem Bereich und nur 1,5 % aller Transferausgaben (Eingliederungshilfen und Hilfen zur Erziehung).
Kinder und Familien profitieren von klaren Regelungen im Bereich der Jugendhilfe
Im Bundesland Berlin ist die Finanzierung von Lerntherapie durch gesetzliche Vorschriften klar geregelt. Unabhängig vom Einkommen der Eltern konnten dadurch im Laufe der letzten 25 Jahre immer mehr betroffene Kinder und Jugendliche eine Lerntherapie in Anspruch nehmen, die über das Jugendamt finanziert wurde. Nach den Ergebnissen der DLT-Studie profitierten in den letzten Jahren (2012–2016) ca. 80 % der betroffenen Familien von der Unterstützung durch das Jugendamt. Dies betrifft aufgrund der bestehenden Gesetze jedoch nur die Kinder und Jugendlichen, bei denen bereits eine psychische Störung und infolgedessen eine nachhaltige Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben festgestellt wurde oder mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Kinder und Jugendliche, die „nur“ eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche ohne ernste psychosoziale Belastungen haben, können über diesen Weg nicht gefördert werden.
Sozial schwache Familien bekommen noch zu selten Hilfe
Durch die zunehmende Finanzierung von Lerntherapie über das Jugendamt fanden in den letzten 25 Jahren auch immer mehr Kinder und Jugendliche, die aus sozial schwachen Familien stammen, einen Zugang zu lerntherapeutischer Unterstützung. Das Jugendamt erbringt damit eine sehr wichtige Leistung. Offenbar bleiben sozial schwache Familien aber dennoch unterrepräsentiert, das heißt, im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung werden sie seltener gefördert als andere Bevölkerungsschichten. Für das Jahr 2013 liegen konkrete Vergleichszahlen vor: Insgesamt waren damals im Land Berlin in 17 % der Familien mit minderjährigen Kindern beide Elternteile erwerblos. In den Familien, die eine durch das Jugendamt finanzierte Lerntherapie in Anspruch nahmen, waren nach der DLT-Studie jedoch nur in ca. 10 % der Fälle beide Elternteile erwerbslos.
Es sollte daher geprüft werden, wie Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien durch andere Instrumente der Familien- und Sozialpolitik einfacher einen Zugang zu wirksamen Lerntherapien bekommen können.
Lerntherapien beginnen zu oft erst spät
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der DLT-Studie war, dass Lerntherapien im Mittel zu spät, nämlich erst im 4. Schuljahr beginnen. Eine Ursache dafür sind die bestehenden gesetzlichen Regelungen, die eine voraussetzungsvolle, aufwendige und langwierige Antragsprozedur zum Nachweis der psychischen Störungen und sozialen Teilhabebeeinträchtigungen notwendig machen.
Wünschenswert wären deshalb Änderungen in der Sozialgesetzgebung und Vereinfachungen in der Umsetzung, um den Zugang zu einer Lerntherapie, evtl. auch unabhängig von einer bereits vorliegenden psychischen Störung, zu erleichtern. Die umfassende Reform des SGB VIII, die nach der Bundestagswahl erwartet wird, würde dazu eine einzigartige Chance bieten.
Lerntherapie wird nicht überall in Deutschland finanziert
Bundesweit wird integrative Lerntherapie als Jugendhilfemaßnahme in vielen Kommunen noch wenig genutzt: Zahlen aus den Duden Instituten in ganz Deutschland belegen, dass die Eltern in ca. 60 % der Fälle die entstehenden Kosten privat tragen. Gründe sind u. a. mangelnde Vertrautheit mit integrativer Lerntherapie, unklare Verfahren und unzureichende Vereinbarungen zu den Inhalten und der Qualität von Lerntherapien. Die Umsetzung des SGB VIII durch kommunale Verwaltungen sollte in ganz Deutschland so gestaltet werden, dass Kinder und Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten einen leichten Zugang zur Lerntherapie bekommen. Dabei sollte Lerntherapie angemessen finanziert werden, damit sie mit hoher Qualität ausreichend wirksam werden kann.