Pädagogik und Psychologie

Buchtipp: "Nichts ist ohne Kontext. Systemische Pädagogik bei Verhaltensauffälligkeiten"

„Nichts ist ohne Kontext“ zielt vor allem auf professionelle Pädagoginnen und Pädagogen bzw. Menschen, die dies werden wollen. Dementsprechend bemüht sich der Autor um eine sorgsame theoretische Begründung seiner Handlungsempfehlungen, die teilweise weit in die Erkenntnistheorie hineinreicht.

Nichts ist ohne Kontext. Systemische Pädagogik bei Verhaltensauffälligkeiten. Winfried Palmowski. (3. Auflage, 2015) Dortmund: Verlag Modernes Lernen. ISBN 978-3-8080-0602-3

Rezension von Dr. Lorenz Huck, Leiter des Fachbereichs "Interdisziplinäre Integration" der Duden Institute für Lerntherapie

Mit seinem Buch „Nichts ist ohne Kontext“ möchte Winfried Palmowski, Professor für Sonderpädagogik an der Universität Erfurt, vor allem „deutlich machen, dass die Einnahme einer bestimmten systemischen Sichtweise (…) für die pädagogische Praxis zu sehr nützlichen, hilfreichen und zusätzlichen Handlungsansätzen führt“ (S. 7, Hervorhebung hinzugefügt).

Der Grundgedanke eines solchen systemischen Ansatzes besteht für Palmowski darin, „dass die Wahrnehmung des Beobachters sich nicht auf die beteiligten Personen konzentriert, sondern auf die Beziehungsmuster zwischen diesen“ (S. 70). Damit erteilt er dem personenbezogenen Denken eine Absage, das sich z. B. darin zeigt, dass konkrete Verhaltensweisen auf Gene, Triebe oder Eigenschaften zurückgeführt werden.

Im Mittelpunkt pädagogischer Bemühungen muss nach Palmowski der Versuch stehen, die Funktionalität eines Verhaltens, also dessen Sinn, im jeweiligen Kontext seines Auftretens zu ergründen. Beispielsweise kann der Autor überzeugend darlegen, welchen Sinn Anstrengungsvermeidung im Kontext schulischen Lernens für Kinder haben könnte: Er argumentiert, dass Kinder, die Misserfolge befürchten müssen, durch das Vermeiden von Anstrengung wirksam der Zuschreibung entgehen können, „dumm“ zu sein. Wer nicht lernt, kann keine Erfolge haben, mit (fehlender) Intelligenz oder Ähnlichem hat das nichts zu tun. Dass sich aus einer solchen Sichtweise auf das Problem andere und weiterführende Handlungsansätze ergeben als aus einer personenbezogenen Sichtweise, dürfte auf der Hand liegen. Schreibt man einem Kind „Faulheit“ zu oder zieht sich auf Formulierungen wie „Er könnte ja, aber er will ja nicht …“ zurück, so mag das entlastend sein, letztlich kann eine solche Sichtweise aber wohl nur zu Resignation führen.

Im ersten Teil von „Nichts ist ohne Kontext“ zeigt Palmowski, dass (pädagogisches) Handeln immer theoriegeleitet, also von speziellen Annahmen bestimmt ist und dass professionelles pädagogisches Handeln erfordert, über Theorien, die das eigene Handeln leiten, Auskunft geben zu können. Er beschreibt dann die Grundgedanken personenbezogener, soziologischer und systemischer Sichtweisen. In einem Exkurs zur „Verhaltensgestörtenpädagogik“ zeigt der Autor zum Ende des ersten Teils, welche Rolle die beschriebenen Ansätze in einem Teilbereich der Pädagogik historisch gespielt haben – und aktuell spielen. Im zweiten Teil seines Buches beschreibt Palmowski Handlungsansätze, die sich in der Pädagogik aus der systemischen Sichtweise ergeben. Er nennt Bausteine einer professionellen Beziehungsgestaltung, erörtert Sinn und Unsinn von Diagnosen und führt Gesichtspunkte für die Gestaltung von Schule und Unterricht an.

„Nichts ist ohne Kontext“ zielt vor allem auf professionelle Pädagoginnen und Pädagogen bzw. Menschen, die dies werden wollen. Dementsprechend bemüht sich der Autor um eine sorgsame theoretische Begründung seiner Handlungsempfehlungen, die teilweise weit in die Erkenntnistheorie hineinreicht. Gleichwohl ist Palmowskis Buch eine anregende und über weite Strecken unterhaltsame Lektüre.