Pädagogik und Psychologie

25 Jahre Lerntherapie an den Duden Instituten

Ein Gespräch zwischen den Generationen über die Anfänge und die Entwicklung der Lerntherapie im Bereich Rechenschwäche.

Dr. Elin Bahner-Heyne, Psychologin und seit 2015 Leiterin des Duden Instituts für Lerntherapie in Berlin-Spandau, ging selbst noch zur Schule, als Dr. Andrea Schulz mit ihrer Forschung begann. Dr. Andrea Schulz ist Lehrerin, Didaktikerin und Leiterin des Systems der Duden Institute. Sie legte damals den Grundstein für das lerntherapeutische Konzept der Duden Institute. Ein Gespräch zwischen den Generationen über die Anfänge und die Entwicklung der Lerntherapie im Bereich Rechenschwäche:

Bahner-Heyne: Frau Dr. Schulz, die Frage, wie man Kindern mit Lernschwierigkeiten, z. B. bei einer Rechenschwäche, helfen kann, beschäftigt Sie schon Ihr ganzes Berufsleben. Zunächst waren Sie Grundschullehrerin, dann Dozentin in der Lehrerausbildung. Vor 25 Jahren begann schließlich Ihre lerntherapeutische Arbeit. Woran denken Sie als Erstes, wenn Sie an diesen Anfang denken?

Dr. Andrea Schulz in Therapiesituation (Anfang der 90er Jahre)

Schulz: Vor allem fallen mir unsere ersten Therapiekinder ein. Und ich erinnere mich noch an die eigene Aufregung, ob das, was wir uns vorgenommen hatten, gut aufgehen wird. Können wir den Kindern wirklich helfen? Das musste die Praxis erst noch zeigen.

Bahner-Heyne: Was waren wichtige Entwicklungen, die die Arbeit mit rechenschwachen Kindern beeinflusst haben?

Schulz: Ausgangspunkt war für mich die Überzeugung, Mathematiklernen als Entwicklungsprozess aufzufassen. Es geht nicht darum, Kindern Mathematik als Fertigprodukt „einzutrichtern“. In meinen Untersuchungen mit Grundschulkindern habe ich die Frage gestellt, wie sich erfolgreich lernende Kinder von denen unterscheiden, die gravierende Schwierigkeiten haben. Ich stellte fest, dass es vor allem fehlende oder unzureichende Strategien in der kognitiven Verarbeitung sowie Erfahrungsmängel sind, die ihre Ursache in Entwicklungsverzögerungen haben können. Entwicklung zu unterstützen und dabei bei kognitiven Lernvoraussetzungen zu beginnen, wurde ein Kerngedanke für mich. Den wollte ich in der Lerntherapie umsetzen. Die ersten Familien, die zu uns kamen, waren in gewisser Weise Vorreiter – es gab ja kaum Erkenntnisse zum Phänomen der Rechenschwäche. Ein Meilenstein in der Sicht auf das Phänomen der Rechenschwäche war u. a. dann auch das „Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht“ von Jens Holger Lorenz und Hendrik Radatz, das 1993 erschienen ist. Es bestätigte viele Positionen, die auch für uns bis heute wichtig sind.

Bahner-Heyne: Zum Beispiel?

Schulz: Zum Beispiel sagen wir, dass die Beschäftigung mit Geometrie in der Arbeit mit rechenschwachen Kindern wichtig ist und dass man Kinder dabei unterstützen muss, sich vom Hantieren mit Material zu lösen und Vorstellungen zum Rechnen zu entwickeln und zu nutzen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie skeptisch einige unserer ersten Eltern waren, weil wir uns nicht nur mit dem Rechnen, sondern mit Würfeln, Zylindern und anderen Figuren beschäftigten.

Dr. Andrea Schulz in Therapiesituation 2 (Anfang der 90er Jahre)

Bahner-Heyne: Gibt es weitere Forschungen, evtl. auch außerhalb der Mathematikdidaktik, die für die Lerntherapie relevant waren?

Schulz: Die medizinische und neuropsychologische Forschung war und ist spannend. Sie hat uns in vielem bestärkt. Beeindruckend ist für mich, wie veränderbar das Gehirn ist. Das zeigt, wie lernfähig wir Menschen unter günstigen Bedingungen sind. Zum Beispiel konnte ein Team um Michael von Aster zeigen, dass sich die Hirnaktivität von rechenschwachen Kindern infolge passender Interventionen ändert und tendenziell derjenigen von unauffälligen Rechnern angleicht.

Bahner-Heyne: Welche gesellschaftlichen Entwicklungen waren wichtig?

Schulz: Da integrative Lerntherapie immer mehr Anerkennung fand, konnten wir häufiger mit den Jugendämtern zusammenarbeiten. Diese übernehmen in vielen Bundesländern die Kosten für eine Lerntherapie. Das ist ein großer Fortschritt im Vergleich zu den Anfangsjahren. Wir können dadurch auch vielen Kindern helfen, deren Eltern eine Lerntherapie nicht privat finanzieren können. Entwicklungen an den Schulen berühren uns ebenfalls. Von Anfang an war uns wichtig, gut mit Schulen zusammenzuarbeiten. In Fortbildungen haben wir in den frühen Jahren über die Thematik der Rechenschwäche informiert. Inzwischen hat das Thema Eingang in die Studiengänge der Lehrerausbildung gefunden. Wir arbeiten jetzt in Projekten mit Schulen daran, solche Lernschwierigkeiten zu verhindern bzw. lerntherapeutische Maßnahmen im Rahmen schulischer Möglichkeiten bestmöglich zu integrieren.

Bahner-Heyne: Gibt es Prinzipien Ihrer Arbeit, die von all diesen Entwicklungen unberührt geblieben sind und vor 25 Jahren genauso galten wie heute?

Schulz: Auch die gibt es. Da ist zum Beispiel das konsequente Arbeiten an Lernvoraussetzungen wie Orientierungs- und Vorstellungsfähigkeiten bzw. das Verzahnen dieser mit der Arbeit an mathematischen Grundlagen. Wenn wir mit den Kindern ihre Zahlvorstellungen weiterentwickeln, unterstützen wir ihre Vorstellungen auch insgesamt. Dabei ist uns die Konzentration auf das Wesentliche wichtig: das Prinzip, jedem Kind so viel Zeit zu geben, wie es braucht, um wichtige Erfahrungen zu sammeln, diese für sich sprachlich zu verarbeiten und schließlich die mathematische Struktur eines Problems zu begreifen. Wir tun nur das Notwendige, das aber so lange, bis jedes Kind sicher ist! Anders als manche Erwachsene glauben, langweilen sich Kinder nicht, wenn sie immer wieder Ähnliches auf immer etwas höherem Niveau tun – im Gegenteil, diese Wiederholung gibt rechenschwachen Kindern Sicherheit. Sie können so ihre Erfolge selbst erleben und wachsen daran weiter.

Bahner-Heyne: Wird heute nicht mehr genügend geübt?

Schulz: Das kann man so nicht sagen. Üben kann man nur das, was man bereits begriffen hat. In der Lerntherapie liegt der Schwerpunkt darauf, mit einem rechenschwachen Kind zunächst am Verständnis zu arbeiten, dadurch Lernerfolge zu ermöglichen und ihm diese bewusst zu machen. Üben kann das Kind dann selbstständig zu Hause bzw. mit der Unterstützung der Eltern. Wie so oft hängen didaktische und therapeutische Elemente unserer Tätigkeit hier eng zusammen: Wenn Eltern und Kinder verstehen, warum genau an dieser Stelle, auf diese Weise, regelmäßig und in überschaubaren Portionen geübt werden sollte, tun sie es gern und erleben vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit, dass die gemeinsame Anstrengung etwas bringt und sogar Spaß machen kann. Damit ist die Grundlage geschaffen, dranzubleiben und nachhaltige Fortschritte zu erzielen.

Bahner-Heyne: Frau Schulz, was geben Sie angehenden Lerntherapeuten heute als Resümee Ihrer langjährigen Arbeit mit auf den Weg?

Schulz: Sie sollten sich den unerschütterlichen Glauben an die Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten eines jeden Kindes bewahren und allen Beteiligten mit viel Wertschätzung begegnen.

Bahner-Heyne: Frau Schulz, vielen Dank für das Gespräch.