Geometrie – Quelle der Neugier und des Lernens

Dr. Christian Werge, Universität Leipzig, Mitarbeiter im Bereich Didaktik des Mathematischen Instituts und Leiter des Duden Instituts für Lerntherapie Halle

Fast genau vor 450 Jahren, am 15. Februar 1564, wurde der Begründer der modernen naturwissenschaftlichen Forschung, Galileo Galilei, geboren. Überliefert ist seine hohe Meinung von der Geometrie:

"Wer die Geometrie begreift, vermag in dieser Welt alles zu verstehen.“

Zu seiner Zeit hatte die Geometrie schon eine fast fünftausendjährige Geschichte, beginnend vielleicht bei Spiralen auf Megalithgräbern oder Mustern auf Tonscherben, und ihren ersten Höhepunkt als Wissenschaft hinter sich (Pythagoras, Thales und Euklid). Die antiken griechischen Geometer haben die Entwicklung der Mathematik stark beeinflusst, z. B. durch sogar in die Alltagssprache aufgenommene Probleme wie die „Quadratur des Kreises“. Erst zweitausend Jahre später konnte im Jahr 1882 der deutsche Mathematiker Lindemann (1852-1939) mit algebraischen Mitteln beweisen, dass dieses geometrische Problem unlösbar ist.

Schaut man in Schul(jahr)bücher des 19. Jahrhunderts, fällt der hohe Stellenwert auf, den die Geometrie genoss. Eine Kostprobe: „Einen Kreis zu construiren, welcher durch zwei gegebene Punkte P und P1 geht, und die Peripherie eines seiner Lage und Größe nach gegebenen Kreises halbirt …“ (Mathe-Abituraufgabe Nr. 1 des Berliner Friedrichs-Gymnasiums, Ostern 1861).

Und heute? Die „Welt“ schreibt „Deutschland braucht Nachhilfe in Mathe“ und bezieht sich auf den großen Mathematiktest, den die ZEIT, die Stiftung Rechnen und das Meinungsforschungsinstitut Forsa im April 2013 mit mehr als eintausend repräsentativ ausgewählten Deutschen durchgeführt haben. Deutliche Schwierigkeiten bereiteten die geometrischen Aufgaben, z. B. (Aufg. 27): „Die Kantenlänge eines Würfels wird verdoppelt. Was passiert mit dem Volumen?“ Anzukreuzen war eine von fünf Auswahlantworten und nur ganze 33 % haben sich für „verachtfacht sich“ entschieden.

Ist dieses Ergebnis auf eine Unterschätzung der Geometrie und eine Überschätzung der Arithmetik und Algebra beim Mathematiklernen zurückzuführen? Die Didaktik der Mathematik gibt eine klare Antwort: Arithmetik und Geometrie gehören zusammen. „Arithmetisierung präzisiert, systematisiert und formalisiert das geometrische Denken; Geometrisierung mobilisiert, modelliert und ästhetisiert das arithmetische Denken“, schrieb Heinrich Winter 2003.

Sollte es eines Beweises dieser These bedürfen, hier ist er. 1992 stellte Stephan Dehaene sein Triple-Code-Modell vor, das die Rolle eines „inneren Zahlenstrahls“ beim Lösen arithmetischer Aufgaben, insbesondere beim Schätzen und Überschlagen, eindrucksvoll beschrieb. Etwa zehn Jahre später konnten durch Untersuchungen von „rechnenden Probanden“ im Kernspintomografen diejenigen eng umgrenzten Hirnareale gefunden werden, die beim Ausführen bestimmter Rechnungen beteiligt sind. Und das Überraschende: Die infolge von Stoffwechselprozessen aufleuchtenden Bezirke sind fast identisch mit denen, die beim Lösen geometrischer Aufgaben aktiv sind. Das kann als ein Beleg dafür angesehen werden, dass jede Geometriestunde direkt der Arithmetik und Algebra, also dem Rechnen dient.

Weitere Argumente unterstreichen die enge Verknüpfung ebenso. So ist jede Veranschaulichung eines arithmetischen Sachverhalts geometrischer Natur, beginnend bei der Darstellung von Mengen mithilfe von Würfelbildern über die Tortenmodelle für die Bruchrechnung bis hin zu Abbildungen zum Verständnis der Integralrechnung (siehe Abb.1).


Der nur sparsam beschriftete Zahlenstrahl hat längst Eingang in Schulbücher und Lernmaterialien gehalten. Im Verlauf der Grundschulzeit entfaltet sich der innere Zahlenstrahl und ist dann auch für sogenannte heuristische Rechenstrategien nutzbar. Die Aufgabe 67 + 19 = 86, dargestellt auf einem „Rechenstrich“, wird kinderleicht, denn der Trick 67 + 20 - 1 ist sichtbar. (Abb. 2)

Arithmetische Sachverhalte können unmittelbar geometrisch begriffen (im direkten Wortsinn) werden.
Man gibt beispielsweise einem Grundschulkind eine gewisse Anzahl gleich großer Würfel und fordert es auf, alle Würfel in einem Quader anzuordnen. Es wird für 12 Würfel vier grundsätzlich verschiedene Quader finden (1 • 1 • 12, 1 • 2 • 6, 1 • 3 • 4, 2 • 2 • 3), dagegen bei der Primzahl 13 nur genau einen (1 • 1 • 13).

Beim Multiplizieren dürfen Faktoren vertauscht werden. In der unten dargestellten Anordnung (Abb. 3) wird es sichtbar. Sichtbar wird aber auch, dass der Betrachter je nach Reihenfolge der Faktoren eine andere Strukturierung vornehmen muss.

Abb. 3

Oder wie wäre es mit einem Beispiel zur Teilbarkeit: Die Summe von drei aufeinanderfolgenden Zahlen ist stets durch 3 teilbar. Das erkennt hier schon ein Grundschulkind: Das beliebig hoch errichtete Würfelgebäude wird etwas umgebaut und schon ist das Dreifache der mittleren Höhe sichtbar. (Abb. 4)

Neue rechnerische und grafische Möglichkeiten für die Lösung geometrischer Probleme eröffneten sich mit der Nutzung von Computern. Zum Beispiel gestattet das populäre dynamische Geometriesystem „GeoGebra“, zu konstruieren und parallel dazu Berechnungen anzustellen. (Die Abbildung 1 zur Veranschaulichung eines Integrals wurde zum Beispiel auch mit dieser Software erstellt.)

Ein weiteres Beispiel für die Möglichkeiten des Computers: Die Zeichnung (Abb. 5), die farbenfroh an eine Frühlingswiese erinnert, veranschaulicht Potenzen natürlicher Zahlen: Der rote Kreis ist 50 = 1-mal da, von den türkisfarbigen Blüten gibt es 51 = 5, von den hellgrünen 52 = 25 usw. Die Blume wird immer größer und verzweigter wenn man diesen Verfahren fortsetzt. Dafür wurde ein kurzes Computerprogramm („Fuenfkreis“) in der Sprache FMS-Logo genutzt.

Abschließend kehren wir zur Geschichte der Mathematik zurück. In seinem Buch „Vom Feldmessen“ schrieb Helmreich schon 1591: „Darumb die Geometria und Arithmetica mit einander verschwistert und also vereiniget/ das die Geometria ihre stummende und deutende Demonstrationes durch die Rechenkunst mus offenbaren/ außreden und an tag bringen.“

Geometrie ohne das Rechnen zu betreiben erschien ihm also zu wenig. So und umgekehrt gilt es für unsere Kinder auch heutzutage.


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