Rechenschwäche

Wie Kinder Rechnen lernen und dabei Spaß haben

Johannes Hinkelammert (s. Foto) hat mit großer Leidenschaft das Rechenpate-Projekt für Studierende der Freien Universität Berlin aufgebaut. Hier ist sein Bericht:

von Johannes Hinkelammert

Inspiriert durch meine Tätigkeit als Lerntherapeut habe ich als Mitarbeiter der Freien Universität Berlin im Arbeitsbereich Mathematische Bildung und Gesellschaft für Lehramtsstudierende ein Seminar angeboten mit dem Titel „Grundlagen und Problemfelder der anfänglichen Zahlbegriffsentwicklung“, das später zum „Rechenpate-Projekt“ wurde. Mein Herzensanliegen war es, rechenschwachen Kindern spielerisch die Mathematik nahezubringen. Verpflichtender Teil des Seminars ist daher für die Studierenden die Förderung eines rechenschwachen Kindes an einer Grundschule, sozusagen als dessen Rechenpate.

Ziel des Seminars ist neben dem Erwerb von Kenntnissen zur Förderung und Diagnose rechenschwacher Kinder die Forschung über den mathematischen Lehr-Lern-Prozess im Rahmen einer reflektierten Praxiserfahrung. In den Seminaren wird auch die Differenz zwischen Theorie und Praxis thematisiert. Sozusagen als „Nebeneffekt“ erhalten Kinder eine qualifizierte Förderung, die von den Schulen unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht immer geleistet werden kann.

Im Rahmen dieses Projekts werden regelmäßig Lernspiele eingesetzt, die Lernen in einem angst- und druckfreien Ambiente ermöglichen. Dies öffnet vielen Kindern eine Tür zum Mathematiklernen, die teilweise schon fest verschlossen war. Eine Fördereinheit, die mit den Worten „Wollen wir spielen?“ beginnt, zeigt nahezu immer positive Wirkung.

Die Studentin Ilayda-Sena Özgül erklärt dazu in ihrem Förderbericht zu einem Kind: Er (gemeint ist das geförderte Kind, J. H.) wirkte motivierter und äußerte, dass Mathe durch die Spiele auch Spaß machen kann. In einem aufgeschlossenen Ton sagte er zu mir, dass er seiner Lehrerin davon erzählen möchte, und hofft, dass alle diese Spiele auch weiterhin im Unterricht spielen können, selbst wenn ich nicht mehr da bin. Diese positive Reaktion zeigt, wie die spielerische Herangehensweise nicht nur sein Verständnis, sondern auch seine Einstellung zu Mathematik verbesserte.

Der weit überwiegende Teil der Förderungen widmet sich dem Mengenverständnis bzw. dem Ablösen vom zählenden Rechnen. Dabei wird sehr häufig das Spiel „Zehn gewinnt“ eingesetzt. Bei diesem Spiel werden Anzahlen bis 10 strukturiert dargestellt und im Spielverlauf verändert. Eine mögliche Spielregel ist: Wer als erstes sein Spielfeld gefüllt hat, gewinnt. Unterstützt wird die Mengenerfassung in diesem Spiel durch die Fünferstruktur in der Darstellung. Auf das Spielfeld werden nach und nach Spielsteine gelegt, bis es gefüllt ist. Ein Würfel bestimmt die Anzahl der zu legenden (oder auch zu entfernenden) Spielsteine. Die Spieler/-innen schreiben ein Protokoll für jeden Spielzug, wobei das Hinzufügen als Addition und das Entfernen als Subtraktion notiert wird.

Abbildung vom Spielfeld beim Spiel "Zehn gewinnt"

Anregendes und beziehungsförderndes Spielmaterial Ein weiteres Element, das motivierend auf die Kinder wirkt, ist das Anschauungs- bzw. Spielmaterial. Die Studierenden, die im Rahmen des Seminars die Förderung durchführen, bekommen eine Förderbox voll mit Materialien, z. B. bunte Kunststoffchips, Dinesmaterial, Wurfbällchen, Spielfelder und Spielkarten. Der Drang, dieses Material in die Hand zu nehmen, sobald die Kinder es sehen, und damit zu spielen, ist bei allen so groß, dass sie sich gern auf das Lernen einlassen.

Neben dem Aspekt der Freude und der Motivation, die Lernspiele mit sich bringen, ist auch der Beziehungsaspekt zu nennen. Spielen ermöglicht es den Akteuren, in Beziehung zu treten. Gerade Grundschulkinder sehen die Person der Lehr- und Förderkraft nicht nur in dieser Rolle, sondern als Mensch. Sie wollen sie kennenlernen und möchten auch selbst als Kind kennengelernt werden. Dies geschieht gewöhnlich über nichtmathematische Themen wie Hobbys, häusliche und schulische Situationen. Mit Hilfe der Lernspiele kann dies auch in der Fördertätigkeit selbst geschehen, also während und durch das Lernen von Mathematik. Wesentlich ist dabei, dass das Lernspiel Träger des mathematischen Lernprozesses ist und die Lehr- bzw. Förderkraft entlastet, damit sie ihre Aufmerksamkeit für die Beziehungsgestaltung aufwenden kann. Dazu gehört auch, dass sie interessiert nachfragt, weshalb ein bestimmter Spielzug gemacht wurde und welche mathematischen Hintergründe dies gemacht haben könnte. Dies geschieht alles sehr behutsam und berücksichtigt die psychische Situation und den Charakter des Kindes. Hier sind ausgeprägte Fähigkeiten in Empathie und Intuition gefragt, ebenso wie die Freude am Spiel und die Lust, mit Menschen in Kontakt zu kommen.

Frau Özgül schreibt dazu: Da ich bei Deniz bereits festgestellt hatte, dass ihm das Spiel „Zehn gewinnt“ viel Freude bereitete, habe ich es auch erstmals bei Justus angewendet, um eine gewisse Bindung und Motivation aufzubauen. Mein Ziel ist es, dass er sich neben mir wohlfühlt und das Gefühl bekommt, auch Fehler machen zu können, ohne dafür verwarnt zu werden.

Spielregeln als Chance, sich einzubringen

Kinder spielen sehr unterschiedlich. Für einige ist ein festes Regelwerk eine Stütze im Spiel- und Lernprozess, für andere sind Spielregeln eine Einschränkung, manchmal auch eine Über- oder Unterforderung. Das Spiel entsprechend anzupassen und evtl. auch gemeinsam neue Regeln hinzuzufügen oder abzuändern, ist sowohl Teil des Spiels als auch des Lernprozesses. Der Aushandlungsprozess ist ein In-Beziehung-Treten, er ist eine Begegnung, zumindest kann er so gestaltet werden.

Frau Özgül erlebte das so: Beide Schüler hatten die Freiheit, sich aktiv in den Lernprozess einzubringen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen zu haben. Durch die Variation der Spielregeln konnte ich auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler eingehen, was besonders bei Deniz und Justus unterschiedliche Ansätze erforderte. Deniz zeigte eine deutliche Präferenz für Abwechslung, weshalb ich die Regeln nach jeder Runde anpasste. Diese Flexibilität half, sein Interesse aufrechtzuerhalten, und ermöglichte eine gezielte Fokussierung auf die mathematischen Inhalte. Bei Justus hingegen war eine behutsame Herangehensweise notwendig. Durch mehrfache Wiederholungen desselben Spiels konnte er nach und nach Selbstständigkeit entwickeln und aktiv am Spiel teilnehmen.

Um Ihnen, den Leserinnen und Lesern dieses Artikels, einen kleinen Einblick zu ermöglichen, wurde das Spiel auf meiner Homepage Rechenpate.de für Sie veröffentlicht. Sie sind eingeladen, das Spielfeld auszudrucken und zu spielen. Es ist das mit Abstand erfolgreichste Spiel aus 35 Spielen. Kommen Sie auch zur Langen Nacht der Wissenschaften am 22.06.2024 in die FU Berlin. Dort präsentieren wir die Lernspiele des Rechenpate-Förderkonzepts.

Über den Autor

Johannes Hinkelammert unterrichtet seit über zehn Jahren als Dozent in der Lehrkräftebildung für Grundschulpädagogik im Bereich der Mathematikdidaktik. Er führt das Rechenpate-Projekt an und verfügt über vorausgegangene Erfahrungen als Lehrer und Lerntherapeut für Dyskalkulie. An der Freien Universität Berlin betreut er das Projekt „Mathe sicher können“ der Telekom-Stiftung.