Pädagogik und Psychologie

Was sind essenzielle Elemente einer „systemischen“ Therapie?

Martin Gruber stellt essenzielle Elemente der systemischen Therapie vor.

von Martin Gruber, Systemischer Therapeut (BIF Berlin)

In Supervisionen, Workshops und Vorträgen hatte ich über die letzten Jahre wiederholt die Gelegenheit, Lerntherapeuten in unterschiedlichsten Bezügen bei ihrer anspruchsvollen Arbeit zu begleiten. Als „systemischer“ Therapeut und Supervisor achte ich dabei besonders darauf, dass die vielschichtigen, in komplexen Wechselwirkungen stehenden Kontexte und Akteure des Systems Lerntherapie systematisch einbezogen werden, wenn über lerntherapeutisches Handeln nachgedacht und gesprochen wird.

Was ist mit „systemisch“ gemeint?

Geht man dem Begriff in Literatur und Internet oder auch in Kollegengesprächen auf die Spur, kann man sich leicht an ein Stück Seife in der Badewanne erinnert fühlen: Kaum glaubt man, das „Systemische“ (be-)greifen zu können, flutscht es auch schon wieder weg. Es scheint zur Definition des Begriffs „systemisch“ mindestens so viele Ansätze zu geben, wie es Gruppierungen gibt, die dieses Konzept seit den Gründerjahren der Familientherapie verwenden, aus der es sich entwickelt und in andere Formate (z.B. Supervision, Coaching, pädagogische Konzepte, Schulen) verbreitet hat (vgl. Ludewig 2002).

Man kann darüber dicke Bücher schreiben und gerade in jüngerer Vergangenheit sind auch wieder etliche dicke Bücher über das Systemische geschrieben worden (z. B. das „Lexikon des systemischen Arbeitens“, Kleve & Wirth 2012). Die mit dem Systemischen verbundene Komplexität kann offenbar nur schwer auf einige zentrale, sozusagen „griffige“ Punkte reduziert werden. Dennoch versuche ich, im Folgenden einige systemische Kernkonzepte aufzulisten.

Systemische Vorgehensweisen in der Lerntherapie

In bester systemischer Tradition bietet sich für die Beschreibung ein Vorgehen in Unterscheidungen an: „eher weniger davon..., dafür eher mehr hiervon“. Meine von G. Bateson geprägte Systemiker-Hoffnung ist, dass so mehr Information entsteht: durch Unterscheidungen, die einen Unterschied machen (Bateson 1981):

  1. eher weniger: Analyse einzelner Elemente und deren Eigenschaften (der Schüler, beteiligte Personen), Fokus aufs Individuum eher mehr: Fokus auf Interaktionen, Wechselwirkungen und Zusammenhänge im Gesamtkontext Lernanforderung, systemischer Fokus Beispiel: Systemisch inspirierte Lerntherapeuten bemühen sich, Lernschwierigkeiten zu „kontextualisieren“, sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Anforderungen im Lernprozess und verschiedenen Voraussetzungen, die ein Kind und eine Familie mitbringen. Dadurch wird z. B. denkbar, dass bestimmte Anforderungen für ein Kind „unpassend“ sein können.
  2. eher weniger: lineare Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen eher mehr: zirkuläre Wechselbezüge, Fließgleichgewichte Beispiel: Ein Lerntherapeut wird in der Elternberatung u. a. regelmäßig Perspektivwechsel anregen oder mit sog. „zirkulären Fragen“ arbeiten: „Was mag ihr Kind in dieser Situation denken?“ „Was würde ihr Mann dazu sagen?“
  3. eher weniger: Suche nach Objektivität und Messbarkeit eher mehr: Erkundung subjektiver Wirklichkeiten und Bedeutungsgebungen Beispiel: Ein Lerntherapeut wird mit Eltern und Kindern u. a. darüber sprechen, welche Ursachen des Lernproblems sie vermuten (z. B. „Ich bin nun mal zu doof für Mathe.“). Er begegnet Eltern und Kindern mit größtem Respekt, ihren Ideen gegenüber ist er aber manchmal respektlos („Es könnte immer auch anders sein, als berichtet…“).
  4. eher weniger: Maßnahmen, Instruktion, Behandlung durch Lernexperten eher mehr: Anregung von Selbstorganisationsprozessen in einer (beraterischen) Forschungsgemeinschaft; Prozessberatung Beispiel: Der Lerntherapeut erwartet nicht, dass seine Maßnahmen unweigerlich zum Erfolg führen werden („lebende Systeme sind nicht-trivial, nicht vorhersagbar“). Er versteht, dass das Kind und sein Bezugssystem selbst lernen, Entdeckungen machen, für sich einordnen und formulieren müssen – und dass die Gedanken des Kindes und seiner Bezugspersonen nicht immer den eigenen Erwartungen und Vorannahmen entsprechen werden.
  5. eher weniger: Was? eher mehr: Wie? und wozu? Beispiel: Ist ein Kind in der Hausaufgabensituation dem Anschein nach regelmäßig albern und ablenkbar, sucht der Lerntherapeut nach einem „funktionalen Verständnis“: Wovor schützt und wozu nützt das „alberne“ Verhalten? (z. B.: Frustrationserlebnisse vermeiden; Loyalität zum Vater zeigen, der die Lerntherapie für überflüssig hält; noch eine Weile „klein bleiben“ und die Klasse wiederholen dürfen usw.)
  6. eher weniger: Was fehlt? Analyse von Defiziten und den Gründen dafür (in der Vergangenheit) eher mehr: Was ist schon da? Erkundung von Ressourcen, Möglichkeiten und positiven Vorstellungen der Zukunft Beispiel: Der Lerntherapeut nimmt eine konsequent „ressourcenorientierte“ Haltung ein und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, was ein Kind (in Ausnahmesituationen) schon kann und was es in absehbarer Zeit können will (sog. „solution talk“).
  7. eher weniger: richtig oder falsch eher mehr: passend oder unpassend Beispiel: Der Lerntherapeut vertraut darauf, dass Kinder und Familien selbst herausfinden, was für sie gut ist, z. B. wie häusliche Übungen am besten in den Tagesablauf integriert werden können.

Rückblickend habe ich den Eindruck, dass systemische Konzepte in den letzten Jahren in der Lerntherapie an Bedeutung gewonnen haben und für viele Lerntherapeutinnen und -therapeuten mittlerweile selbstverständlich geworden sind. In diesem Sinne wäre die Lerntherapie „systemischer“ geworden.

Sollten Sie sich etwas eingehender für das Systemische und die diesbezüglichen Entwicklungen interessieren, besuchen Sie doch meine Website. Dort werden ab Herbst 2016 diverse weiterführende Materialien und Informationen bereitgestellt. Man kann sich aber jetzt schon dort eintragen und wird dann zu neuen Veröffentlichungen benachrichtigt.

Literatur: Ludewig, K. (2002). Leitmotive systemischer Therapie. Klett-Cotta: Stuttgart Wirth, J. V. & Kleve, H. (Hrsg.) (2012). Lexikon des systemischen Arbeitens. Carl Auer: Heidelberg. Bateson, Gr. (1981). Ökologie des Geistes. Suhrkamp: Frankfurt.

Weitere Informationen
www.systemisch.de.