Lese-Rechtschreib-Schwäche

Lesenlernen: Aller Anfang ist schwer

Das Lesenlernen ist gerade zu Beginn ein mühsamer Prozess: Wie müssen Bücher gestaltet sein, um den Ansprüchen von Erstleser/-innen gerecht zu werden? Ein Gespräch mit Prof. Hans Brügelmann.

Interview mit Professor Hans Brügelmann

Herr Professor Brügelmann, das Lesenlernen ist gerade zu Beginn ein mühsamer Prozess. In einer aktuellen Untersuchung haben Sie sich mit der Frage befasst, wie Bücher für Erstleser/-innen gestaltet sein müssen, damit sie einerseits „leicht“ zu lesen sind, andererseits aber auch die Leseinteressen der Kinder bedienen und wecken können. Welche Kinder genau haben Sie eigentlich im Blick, wenn Sie von „Erst“-Lesern und leserinnen sprechen?

Uns geht es um die Kinder, die gerade erst anfangen, kleine Geschichten zu lesen. Sie erlesen unbekannte Wörter und kurze Sätze oft noch lautierend. In der Regel bewältigen sie auch nicht mehr als 8‒16 Seiten auf einmal, mit insgesamt nicht mehr als 20‒50 Wörtern. Aber viele wollen schon selbst „ein ganzes Buch“ lesen.

Warum ist Ihnen diese Gruppe so wichtig?

Auf dem schwierigen Weg zum selbstständigen Lesen brauchen Kinder Erfolgserlebnisse, damit sie dranbleiben. Wenn sie diesen Sprung vom Wort- zum Textlesen nicht schaffen, meiden sie oft die Anstrengung des Lesens. Sie bekommen dadurch keine Übung und bleiben in der Mühsal des lautierenden Erlesens stecken. Um mit Erfolg lesen zu können, brauchen Erstleser/-innen aber sehr einfache Texte.

Viele Kinderbuch-Verlage bieten mittlerweile spezielle Reihen für Erstleser/-innen an. Warum sind diese Bücher aus Ihrer Sicht trotzdem häufig noch zu schwierig?

In der Tat gibt es zwar einige Bücher mit wenig Text – aber dann ist die Schrift oft zu klein. Oder die Schrift ist groß, aber die Wörter sind zu schwierig. Den besonderen Bedürfnissen der echten Leseanfänger/-innen wird das Angebot der Kinderbuch-Verlage leider nicht gerecht. Wir haben einen Querschnitt dieser Bücher mithilfe des „Bremer Erstlese-Index“ (BRELIX) analysiert. Dies sind die Ergebnisse im Vergleich mit den Anforderungen für den Leseanfang:

  • zu großer Gesamtumfang (durchschnittlich 46 statt 8‒16 Seiten, mit insgesamt fast 300 statt 30‒70 Wörtern)
  • zu viel Text pro Seite (durchschnittlich 30 statt 1‒3 Wörter)
  • zu kleine Schrift (durchschnittlich 16 statt 24 Punkt)
  • zu lange Sätze (durchschnittlich 7 statt 3‒4 Wörter, 28 % mit Nebensätzen)
  • zu lange und zu komplexe Wörter (besondere Schwierigkeiten in jedem zweiten Wort)
Übrigens trifft diese Kritik leider auch auf viele Begleitmaterialien zu, die von den Schulbuchverlagen zu ihren Lehrgängen für die 1. Klasse angeboten werden …

Welche Alternative sehen Sie in Ihrer Forschungsgruppe?

Wir haben in den vergangenen beiden Jahren selbst eine neue Reihe von Leseheften entwickelt, die besonders leicht zu lesen ist, und an 15 Lesebüchlein für ein Schweizer Lehrwerk mitgearbeitet.

Was macht die neuen Reihen denn „leseleichter“ als die bisherigen Angebote?

Zum einen haben wir uns an die Vorgaben des BRELIX für die Stufen 1‒3 gehalten und damit die oben genannten Schwierigkeiten entsprechend reduziert. Vor allem haben wir uns auf kurze, den Kindern bekannte Wörter beschränkt, seltene Buchstaben wie q oder ö so weit möglich vermieden und den Anteil mehrgliedriger Grapheme wie sch, ie und ck gering gehalten.

Außerdem haben wir grafische Hilfen zur Strukturierung der Texte und zur Gliederung einzelner Wörter genutzt, indem wir beispielsweise die verbliebenen mehrgliedrigen Grapheme eingekreist haben (s. Abb. 1 aus „Die Kamele warten“).

Abb. 1: Vorstrukturierung von Wörtern durch das Einkreisen von mehrgliedrigen Graphemen.

Ganz wichtig war uns, Text und Illustration eng aufeinander zu beziehen, sodass die Kinder über die Bilder Informationen erhalten, die man über die Schrift nicht in einfacher Form vermitteln kann (s. Abb. 2 aus dem Büchlein „Yoga mit Mo“, in dem die Kinder verschiedene Yoga-Übungen kennenlernen). Dafür haben die Autoren und Autorinnen sowie die Grafiker/ innen eng zusammengearbeitet.

Abb. 2: Zusammenspiel von Text und Illustrationen im Leseheft „Yoga mit Mo“.

Und wie steht es mit den sprachlich-ästhetischen Ansprüchen der Kinderliteratur?

Auch einfache Geschichten können durchaus interessante Informationen vermitteln oder eine Pointe haben. Anspruchsvollere Kinderliteratur sollte den Kindern daneben in vielfältiger Form möglichst oft über das Vorlesen oder über Hörbücher zugänglich gemacht werden. Darüber erfahren die Kinder zugleich, was Bücher ihnen alles bieten können. Es ist also der beste Weg, Kinder zu motivieren, diese anfangs große Anstrengung des Lesens auf sich zu nehmen.

Wenn Eltern aus der Vielzahl an Büchern für Erstleserinnen und Erstleser eine Auswahl treffen möchten ‒ worauf sollten sie achten?

Am wichtigsten ist, die Kinder möglichst selbst auswählen lassen, z. B. nach Themen, die sie interessieren. Auch bevorzugen Kinder unterschiedliche Arten von Illustrationen. Und natürlich spielt auch eine Rolle, welche Schriftgröße, welchen Umfang und welche Textschwierigkeit sie sich zutrauen.

Eltern sollten dann beobachten, welche Anforderungen ihre Kinder bereits meistern können, und danach das auswählen, was sie selbst den Kindern anbieten wollen. Als Groborientierung sind die oben genannten Kriterien hilfreich ‒ also geringer Seitenumfang, wenig Text pro Seite, große Schrift, kurze Sätze sowie kurze und einfache Wörter. Aber bei aller Vereinfachung sollten die Bücher inhaltlich reizvoll sein und einen „Pfiff“ enthalten, damit sich das Lesen für die Kinder auch lohnt (s. Abb. 3 aus „Alle nass“).

Abb. 3: Szene aus dem Heft „Alle nass“

Hans Brügelmann war bis Februar 2012 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen. Er zählt zu den renommiertesten Experten Deutschlands zum Thema Schriftspracherwerb.

Quellen

Biasio, E., u. a. (2022). Lesebox 15 Lesebüchlein – Die Sprachstarken 1. CH-Baar: Klett-Balmer. ISBN 978-3-264-84692-8

Brügelmann, H., & Brinkmann, E. (2021). Lese∙leichte Lese∙hefte zum Lese∙anfang. Großhansdorf: Heinevetter. ISBN 978-3-87474-440-9