Lese-Rechtschreib-Schwäche

„Jedes Kind kann lesen und schreiben lernen!“

Erfahrungen aus einem einjährigen Fortbildungsprojekt an einer Berliner Grundschule

Erfahrungen aus einem einjährigen Fortbildungsprojekt an einer Berliner Grundschule

von Dr. Astrid Schröder, Leiterin des Fachbereichs Deutsch der Duden Institute für Lerntherapie

Es ist Mittwochmorgen in einer 1. Klasse einer Berliner Grundschule. Felix und Tarek sitzen gemeinsam an einem Tisch, vor sich eine Kiste mit Holzwürfeln. Sie haben die Aufgabe erhalten, einen vorgesprochenen Satz mit Würfeln zu legen, wobei jedes Wort durch jeweils einen Würfel symbolisiert wird. Felix wiederholt den Satz der Lehrerin „Die Tomate ist rot“ und greift nach vier Holzwürfeln, die er vor sich auf den Tisch legt. Tarek spricht den Satz noch einmal nach und betont dabei jede einzelne Silbe: „Die To-ma-te ist rot,“ Er entscheidet: „Wir brauchen noch mehr Würfel! Hör mal, To-ma-te, das sind doch drei Wörter!“ Felix wiederum ist der Meinung: „Nein, das sind Silben, keine Wörter. Guck mal, „ma“ oder „to“, das ist doch kein Wort!“

Schulprojekte der Duden Institute für Lerntherapie

Diese Szene hat sich so oder ähnlich im Schulprojekt „Jedes Kind kann lesen und schreiben lernen!“ ereignet, das von den Duden Instituten für Lerntherapie über einen Zeitraum von einem Jahr an einer Berliner Grundschule durchgeführt wurde. In den 25 Jahren des Bestehens der Duden Institute wurden bereits verschiedene Schulprojekte unterschiedlichen Umfangs innerhalb Deutschlands erprobt (vgl. auch Huck und Schulz, 2017). Das Projekt „Jedes Kind kann lesen und schreiben lernen!“ knüpft dabei an die positiven Erfahrungen einer jahrelangen Zusammenarbeit zwischen den Duden Instituten für Lerntherapie und Berliner Grundschulen im Fach Mathematik an. Die Erkenntnisse aus der Lerntherapie wurden genutzt, um im regelmäßigen Austausch mit den Lehrkräften vor Ort Methoden und Materialien für den Schulunterricht zu entwickeln. Sie sollen den Lese- und Schreiberwerb möglichst optimal unterstützen, die Schülerinnen und Schüler zum Reflektieren anregen und den Erwerb von Einsichten in den Aufbau und die Funktion der Schriftsprache ermöglichen.

Nutzen der Erfahrungen aus der Lerntherapie

Im Rahmen des Schulprojekts wurden in der einmal im Monat stattfindenden Fortbildungsveranstaltung Unterrichtssequenzen für den Einsatz in der Schulanfangsphase bereitgestellt und erprobt. Für die Einheiten wurden Übungen, die sich beim Aufbau grundlegender Inhalte in der Lerntherapie bewährt haben, so aufgearbeitet, dass sie an den individuellen Entwicklungsstand angepasst und in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit im Unterricht durchgeführt werden konnten. Folgende Unterrichtssequenzen wurden für das Schulprojekt „Jedes Kind kann Lesen und Schreiben lernen!“ entwickelt:

  1. Erkennen von Wortgrenzen
  2. Gliedern von Wörtern in Silben
  3. Jede Silbe hat einen Selbstlaut
  4. Lesen: silbenweises Lesen von Wörtern
  5. Schreiben von lauttreuen Wörtern
  6. Unterscheiden von ähnlichen Lauten
  7. Großschreibung von Nomen
  8. Lesen: Wörter „auf einen Blick“ erkennen
  9. Häufig vorkommende Wörter schreiben
  10. Techniken zur Selbstkontrolle

Übung Schriftsprachkompetenz

Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team

Für die Durchführung des Projekts wurde eine Kombination aus Hospitation und Fortbildungseinheit mit Workshopcharakter gewählt. Durch die kontinuierliche Zusammenarbeit konnten die Lehrkräfte dabei ihre Kenntnisse zur Methodik und Didaktik vertiefen und wichtige Meilensteine der Entwicklung für jedes einzelne Kind in den Blick nehmen. „Das schrittweise Arbeiten mit dem Material unterstützt mich dabei, den Lernprozess zu verstehen und zu sehen, was den Kindern Schwierigkeiten bereitet“, so fasste es eine Teilnehmerin des Projekts zusammen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team: Durch die regelmäßig stattfindenden Hospitationen entstand ein vertiefter fachlicher Austausch zwischen Lerntherapeuten und Lehrkräften sowie zwischen den Lehrkräften untereinander. Erfahrungen und Beobachtungen wurden aus allen beteiligten Klassen zusammengeführt und Schwierigkeiten, die bei einzelnen Kindern beobachtet wurden, konnten gemeinsam reflektiert werden.

Die Evaluation des Projekts zeigte: Die weit überwiegende Zahl der beteiligten Lehrkräfte empfanden die Materialien und Übungssequenzen als äußerst hilfreich. Darüber hinaus erkannten sie deutliche Fortschritte bei den Kindern mit den größten Schwierigkeiten. Zu den wichtigsten Bedingungen für das Gelingen des Schulprojekts gehörten:

  • die Verbindlichkeit der Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum und damit die Konzentration auf nachhaltige Erfolge in den wichtigsten Entwicklungsbereichen,
  • eine optimistische Grundhaltung zur Entwicklung der Kinder sowie
  • ein wertschätzender Umgang miteinander und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Die Erfahrungen aus den Schulprojekten zeigen: Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Lerntherapeuten kann es gelingen, besondere Lernschwierigkeiten von Kindern rechtzeitig zu erkennen, zu verhindern und so frühzeitig passende Fördermaßnahmen einzuleiten.

Literatur

Huck, L. & Schulz, A. (2017). Lerntherapie und inklusive Schule. Berlin: Dudenverlag.

Schulz, A., & Schröder, A. (2017). „Jedes Kind kann lesen, schreiben und rechnen lernen! Erfahrungsbericht aus einem Fortbildungs- und Coachingprojekt in der Grundschule“, in: Huck, L. & Schulz, A. (Hg), Lerntherapie und inklusive Schule (291-304). Berlin: Dudenverlag.

Dr. Astrid Schröder

Dr. phil. Astrid Schröder ist Diplom-Patholinguistin und war mehrere Jahre in der Forschung und Lehre an der Universität Potsdam tätig. Seit 2015 leitet sie bei den Duden Instituten für Lerntherapie den Fachbereich Lese-Rechtschreib-Schwäche/Deutsch.