Lese-Rechtschreib-Schwäche

„Die Förderung der Schriftsprachkompetenz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“

Interview mit Prof. Valtin zu Beispielen „guter Praxis“ zur Förderung der Lese- und Schreibkompetenzen inner- und außerhalb des Deutschunterrichts

Interview mit Prof. Renate Valtin zu Beispielen „guter Praxis“ zur Förderung der Lese- und Schreibkompetenzen innerhalb und außerhalb des Deutschunterrichts

Frau Prof. Valtin, Sie waren zwei Jahre lang Leiterin des Teams „Kinder“ im europäischen Netzwerk ELINET (European Literacy Policy Network). Was genau verbirgt sich hinter dieser Initiative und welche Schwerpunkte legten Sie bei Ihrer Arbeit?

Valtin: Das Europäische Netzwerk wurde von der EU mit 3 Millionen Euro finanziert. Ziel war, Aktionspläne zu entwickeln und Maßnahmen zu beschreiben, die geeignet sind, die große Anzahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in Europa, die keine ausreichende Schriftsprachkompetenz aufweisen, zu verringern. Die Laufzeit des Projekts betrug zwei Jahre, von 2014 bis 2016.

In unserem Team haben wir für dreißig Länder Berichte über den Leistungsstand im Lesen und über ihre bildungspolitischen Maßnahmen erstellt – für Deutschland sind es über hundert Seiten geworden. Wir haben einen Referenzrahmen für gute Praxis entwickelt, Beispiele guter Praxis gesammelt sowie eine Europäische Erklärung des Grundrechts auf Lese- und Schreibkompetenz („Literacy“) verfasst. Auf der Netzseite von ELINET sind alle unsere Arbeitsergebnisse abrufbar (www.eli-net.eu).

Wie sieht denn eine gelungene Leseförderung nach dem ELINET-Konzept aus?

Valtin: Basierend auf der Arbeit der High Level Group of Experts on Literacy, einer Sachverständigengruppe, die von der EU einberufen worden war und der ich auch angehören durfte, betrachten wir die Förderung von Schriftsprachkompetenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der viele Personen und Institutionen beteiligt sind. Schulische Maßnahmen sind wichtig, aber nur ein Teil der Lösung. Die in Deutschland herrschende Sprachregelung „Es kommt auf den guten Unterricht an“ wird dem Problem nicht gerecht, sondern schiebt die Verantwortung auf die Lehrkräfte. Für die Förderung der Lesekompetenz sind drei umfassende Handlungsfelder zu berücksichtigen:

(a) Schaffung einer schriftreichen Umgebung, z. B. durch Vorlesen im Elternhaus, das Angebot von kostenlosen Bibliotheken,

(b) die Verbesserung des Unterrichts und

(c) Maßnahmen zur Ermöglichung von Partizipation, Inklusion und Chancengerechtigkeit.

Welche Beispiele guter Praxis haben Sie in Deutschland gefunden?

Valtin: Im Bereich der frühkindlichen Bildung gibt es in Hamburg das Projekt „Family Literacy“, das Eltern die enorme Bedeutung des Vorlesens verdeutlicht. Auch das Projekt „Mein Papa liest vor“, das eine stärkere Beteiligung der Väter als Lesemodell vorsieht, verdient ein Lob. In Baden-Württemberg gibt es obligatorische Sprachstandserhebungen mit anschließender Förderung, sofern ein Bedarf besteht. Das Frankfurter Kita-Programm zielt darauf, durch Schaffung einer schriftreichen Umgebung Kinder zum Lesen und Schreibenlernen in der Schule zu motivieren. Derartige ganzheitliche Programme sind eine klare Absage an isolierte Trainingsprogramme, wie sie derzeit in einigen Bundesländern verbreitet sind.

Das Hamburger Sprachförderkonzept beinhaltet, dass alle Kinder am Ende des Schuljahrs an Tests teilnehmen und eine obligatorische Förderung erhalten, wenn sie bestimmte Werte nicht erreichen. Derartige Maßnahmen sind dringend notwendig, da in Deutschland nur jedes dritte leseschwache Kind eine besondere schulische Förderung erhält, wie es die neuen Ergebnisse von IGLU, der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung, belegen.

In deutschen Schulen arbeiten immer häufiger multiprofessionelle Teams aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammen, um Kindern mit Schwierigkeiten beim Lese- und Rechtschreiberwerb zielgerichtet helfen zu können. Gibt es diese Entwicklung auch in den europäischen Nachbarländern?

Valtin: In erfolgreichen Ländern stehen Fachspezialisten (z. B. Leseexperten, Sprachtherapeuten, Beratungslehrer) zur Verfügung mit dem Ziel, die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen. Deutschland hat hier EU-weit die ungünstigsten Verhältnisse: Für 84 % der Schülerinnen und Schüler (2011 waren es noch 78 %) stehen keine Fachspezialisten im Leseunterricht zur Verfügung.

Wenn Sie eine Vision für einen gelungenen inklusiven Deutschunterricht im Jahr 2025 in Deutschland entwickeln dürften – wie sähe dieser Unterricht aus?

Valtin: Ein gelungener inklusiver Deutschunterricht sollte meiner Meinung nach die folgenden Aspekte abdecken:

  • Die Kinder lernen mit der analytisch-synthetischen Methode lesen und werden gleichzeitig zum freien Schreiben ermuntert. Bei dieser Methode lernen sie zunächst einfache Wörter, die in ihre Laute bzw. Buchstaben zerlegt (analysiert) werden. Aus den Buchstaben lesen (synthetisieren) die Kinder dann neue Wörter, wobei der Wortschatz systematisch aufgebaut wird. (Diese Methode wurde übrigens in der DDR entwickelt, die ersten Wörter waren OMA und OPA.)
  • Die Lehrkräfte verfügen über Kenntnisse und Methoden, um den Lernstand der Kinder festzustellen und ihnen passgenaue Lernaufgaben zu bieten. Eine Etikettierung nach Störung oder Legasthenie wird vermieden.
  • Jedes Kind wird sofort gefördert, wenn es Schwierigkeiten aufweist, wobei Klassenlehrer/-innen Unterstützung durch Leseexpertinnen und -experten erhalten.
  • Sobald die Kinder die basale Lesefertigkeit beherrschen, lernen sie anspruchsvolle Lesestrategien, also Methoden der Texterschließung und -verarbeitung.
  • Die Lesemotivation wird durch freie Lesezeiten, kooperatives Lernen, Anknüpfen an individuelle Interessen sowie Bereitstellung vielseitiger, auch digitaler Leseangebote gefördert.
  • In der Klasse und der Schule herrscht ein respektvoller Umgangston.

Frau Prof. Valtin, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Valtin

Prof. Renate Valtin ist Erziehungswissenschaftlerin im Bereich Grundschulpädagogik und Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Schriftspracherwerb. Zu ihren Hauptwerken zählt das Valtin‘sche Stufenmodell, das den Schriftspracherwerb als Entwicklungsprozess darstellt.