Lese-Rechtschreib-Schwäche

Die Rolle der Morpheme im Schriftspracherwerb

Interview mit Dr. Katharina Galuschka zum Zusammenhang zwischen den Lese- und Rechtschreib-Leistungen und der morphologischen Bewusstheit sowie zu Möglichkeiten der Förderung

Interview mit Dr. Katharina Galuschka zum Zusammenhang zwischen den Lese- und Rechtschreib-Leistungen und der morphologischen Bewusstheit sowie zu Möglichkeiten der Förderung

Frau Dr. Galuschka, Übungen mit Wortbausteinen werden im Grundschulunterricht sowie in der Förderung von Kindern mit LRS häufig eingesetzt. Sie haben in einer aktuellen Studie den Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, Morpheme – also bedeutungstragende Elemente in Wörtern – analysieren und manipulieren zu können, und den Lese- und Rechtschreibfähigkeiten empirisch untersucht. Wie haben Sie das genau gemacht?

Galuschka: Wir haben dafür ein Screeningverfahren entwickelt und damit die morphologische Bewusstheit von 172 Münchner Grundschulkindern erhoben. Die Kinder sollten dabei durch Ableitung eines vorgegebenen Wortes einen Satz ergänzen, z. B.: Gift. Die Schlange ist … (giftig). In der Studie hat sich gezeigt, dass die Fähigkeit, Morpheme in Wörtern zu analysieren und zu manipulieren (also die morphologische Bewusstheit), besonders mit dem Rechtschreiben und der Wortleseflüssigkeit zusammenhängt. Kinder mit guter morphologischer Bewusstheit zeigten in unserer Studie auch gute Lese-Rechtschreib-Leistungen. Kinder mit schwächeren Ergebnissen in unserem Test zur morphologischen Bewusstheit zeigten schwächere Lese-Rechtschreib-Leistungen.

Was sind Morpheme

Die morphologische Bewusstheit spielt also eine wichtige Rolle im Schriftspracherwerb. Inwiefern?

Galuschka: Morpheme haben phonologische, orthografische, semantische und syntaktische Eigenschaften. Daher spielen sie für die Lese- und Rechtschreibfähigkeit eine fundamentale Rolle. Eine gute morphologische Bewusstheit wirkt sich positiv auf das orthografische Lexikon aus. Dies hat wiederum einen positiven Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit und die Rechtschreibung.

Wie in vielen Alphabetschriften gilt auch im Deutschen das Prinzip der Morphemkonstanz. Es besagt, dass die Schreibung von Morphemen möglichst gleich bleibt, unabhängig davon, ob sich z. B. durch Flexion eine andere Aussprache ergibt. Dies dient eigentlich dem Leseverständnis. Das Stammmorphem wird orthografisch markiert und einer Wortfamilie zugewiesen, was das Verständnis erleichtert (z. B. Wende / Wände, Saite / Seite).

Eine stark entwickelte morphologische Bewusstheit macht es den Kindern möglich, komplexe, also aus mehreren Teilen bestehende Wörter genauer und flüssiger zu lesen und sie ihrer exakten Bedeutung zuzuordnen. Sie erleichtert es zudem, orthografisch korrekt der Wortbedeutung entsprechend zu schreiben. Wird die Schreibung des Stammmorphems beherrscht, ergibt sich dadurch häufig die Schreibung von allen anderen Wörtern der Wortfamilie.

Wie entwickelt sich diese Fähigkeit?

Galuschka: Viele Untersuchungen zeigen, dass sich das Wissen über Morpheme in den ersten Jahren der Grundschule weiterentwickelt. In der 1. und 2. Klasse suchen Kinder noch kaum nach bekannten Morphemen im Wort, in den höheren Klassen greifen sie schon sehr viel häufiger auf diese Strategie zurück. Im Gegensatz zur phonologischen Bewusstheit nimmt die Bedeutung der morphologischen Bewusstheit in Laufe der Grundschulzeit also zu.

Kindern mit einer LRS fehlen häufig wichtige Einblicke in Wortstrukturen. Wie könnte eine Förderung zur Verbesserung der Rechtschreibung aussehen?

Galuschka: Die Vermittlung von explizitem Wissen über die morphematische Struktur unserer Wörter kann dazu beitragen, die Orthografie für Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten transparenter und erklärbarer zu machen. Es kann ihnen erleichtert werden, sich die richtige Schreibung vieler Wörter „herzuleiten“. Eine wichtige Komponente vieler Rechtschreibtrainings ist deshalb die Vermittlung von Ableitungsstrategien. So kann z. B. die korrekte Schreibung von Wörtern mit vokalisiertem „r“ am Wortende (Tor statt *Toa) häufig durch die Schreibung und den Klang des Zweisilbers (Mehrzahl: Tore) vermittelt werden. Auch die Schreibung der Umlaute (Häuser statt *Heuser) und die Auslautverhärtung (Hund statt *Hunt) lässt sich anhand von Ableitungsstrategien erklären.

Übungen zum Schreiben und Erkennen von Morphemen, der Zuordnung von Wörtern zu Wortfamilien sowie zur Wortbildung helfen auch bei der Schreibung von Wörtern mit Doppelkonsonanten, Wörtern mit Dehnungs-h sowie bei der Schreibung von häufigen Präfixen (z. B. ver- und vor-). Dies gilt ebenso bei der Großschreibung (z. B. von Wörtern mit -ung, -heit) und bei der Schreibung von zusammengesetzten Wörtern (z. B. Fahrrad statt *Fahrad).

Einblicke in morphematische Strukturen unterstützen nicht nur die Rechtschreibung, sondern auch das Lesen. Mit welchen Übungen kann man das Lesen gezielt unterstützen?

Galuschka: Im deutschsprachigen Raum werden morphematische Übungen vor allem für das Rechtschreiben eingesetzt. Unsere Studie und die Ergebnisse von vorangegangenen Untersuchungen betonen ebenfalls die Bedeutung der Morphologie für die Leseleistung.

Eine stark entwickelte morphologische Bewusstheit ermöglicht es den Kindern, morphologisch komplexe Wörter genauer und flüssiger zu lesen. Die wiederholte Präsentation und das Lesen von Stammmorphemen, Vorsilben und Endungen könnte sich positiv auf die Leseflüssigkeit auswirken. Aber auch Übungen wie die Gliederung von Wörtern in Präfix, Stammmorphem und Suffix, das Bilden von Wörtern aus diesen Wortbausteinen sowie das Finden von Wortfamilien können dafür ebenfalls hilfreich sein und haben sich in Forschung und Praxis besonders bewährt. Diese Übungen zeigten auch eine positive Wirkung auf rezeptive Sprachfähigkeiten und sind damit eine ebenso große Ressource für die Förderung des Leseverständnisses.

Frau Dr. Galuschka, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dr. Katharina Galuschka

Dr. Katharina Galuschka studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der LMU München und hat zum Thema „Evidenzbasierte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung“ promoviert. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig.

Weitere Informationen zum Thema des Interviews: S. Volkmer, G. Schulte-Körne & K. Galuschka (2019). Die Rolle der morphologischen Bewusstheit bei Lese- und Rechtschreibleistungen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 1–11.