Lese-Rechtschreib-Schwäche

Zur Debatte um die Ursache von LRS: Ein Definitionswirrwarr

Interview mit Dozentin Dr. habil. Borghild Rehak zur Debatte um die Ursachen von Lese-Rechtschreib-Schwäche

Interview mit Dozentin Dr. habil. Borghild Rehak

Dr. Rehak, Sie haben sich mehr als 20 Jahre mit LRS wissenschaftlich befasst. Wie stehen Sie zu der Debatte: Ist die LRS eine Krankheit?

Gibt man die Begriffe „Legasthenie“ und „Krankheit“ in eine Internetsuchmaschine ein, dann kommen unzählig viele Treffer. Die Inhalte sind sehr kontrovers. Überschriften wie „LRS ist eine Krankheit“ wechseln sich mit Überschriften wie „LRS ist keine Krankheit“ ab. Mit verschiedenen Begriffen wird unterschiedlich umgegangen: Manche setzen Legasthenie, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Lese-Rechtschreib-Störung gleich, andere definieren da Unterschiede. Dieser Wirrwarr betrifft übrigens auch die Fachpublikationen. Aus meiner Sicht handelt es sich bei der LRS genauso wie bei der Rechenschwäche nicht um eine Krankheit.

Was ist es dann? Lassen Sie mich zunächst mit einer Gegenfrage antworten: Ist ein Kind, das absolut unmusikalisch ist, krank? Sicher, diese Gegenfrage ist etwas provokant. Aber geht es bei dieser Debatte nicht auch darum, dass wir mit ganz unterschiedlichen Begabungen zur Welt kommen? Und kann nicht auch ein unmusikalisches Kind, wenn es gezielt gefördert wird, seine Musikalität verbessern? Keiner würde das in Abrede stellen. Ähnlich verhält es sich mit der LRS und ebenso mit der Rechenschwäche. Jedes Kind hat seine ganz persönlichen Stärken und Schwächen und entwickelt bestimmte Fähigkeiten, die zum Lernen Voraussetzung sind, in einem individuellen Tempo. Nicht immer sind alle Voraussetzungen vorhanden, wenn das Kind in der Schule beginnt, Lesen, Schreiben oder Rechnen zu lernen. Dann kommen Anforderungen, denen das Kind (noch) nicht gewachsen ist.

Gen- und Hirnforscher haben bei Kindern mit einer LRS Abweichungen festgestellt. Sind dies die eigentlichen Ursachen? Wir wissen zu diesem Thema dank der modernen Forschung heute viel mehr als noch vor wenigen Jahren und viele neue Erkenntnisse helfen dabei, in der Lerntherapie den Kindern noch besser gerecht zu werden. Ich warne lediglich bei der Ursachendebatte vor vorschnellen Schlussfolgerungen. Bleiben wir bei dem Beispiel mit der Musikalität: Auch bei unmusikalischen Menschen lassen sich entsprechend andere Hirnaktivitäten messen als bei musikalisch besonders begabten Menschen. Dennoch ist weder der begabte noch der unbegabte Mensch krank. Diese Debatte – ob krank oder nicht – hilft letztendlich nicht weiter.

Welche Debatte brauchen wir? Viel wichtiger ist für mich die Frage: Welche Rahmenbedingungen schaffen wir Kindern oder Jugendlichen, damit sie trotz schlechterer Startbedingungen das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen? Dass sie dies schaffen können, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Wir sollten unsere Kraft darauf konzentrieren, dass jedes Kind mit einer LRS oder einer Rechenschwäche die individuell notwendige Förderung bekommt, damit es erfolgreich lernen kann.

Es fragte Doris Friedrich.