Alphabetisierungsprojekt in Dresden

Von Rudolf Hickmann, Projektleiter

Seit Ende Februar dieses Jahres kommen nicht mehr nur vorwiegend Kinder und Jugendliche zu uns in das Dresdner Duden Institut für Lerntherapie: Im Rahmen des Projekts „Alphabetisierung funktionaler Analphabeten“ fördern wir erwachsene Betroffene. Mithilfe eines einjährigen Alphabetisierungskurses helfen wir Ihnen dabei, die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens zu erwerben.

Frau H. ist eine der Teilnehmer/innen, die den Kurs als ihre Chance sieht, wieder hinreichend am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Sie kam zu uns weil es Ihrer Meinung „niemals schaden könne, etwas zu lernen“. Längst nicht alle Teilnehmer/innen brachten diesen Funken Zuversicht schon mit.

Es war für uns nicht einfach, betroffene Frauen und Männer für den Kurs zu gewinnen. Vom Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit und der Koordinierungsstelle für Alphabetisierung (koalpha) wurde eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit geleistet, um potenzielle Teilnehmer auf den Kurs aufmerksam zu machen.

Das Projekt wurde mithilfe der Koordinierungsstelle für Alphabetisierung im Freistaat Sachsen ins Leben gerufen. Dabei wurde auch das methodische und inhaltliche Konzept des Kurses vom Bildungsinstitut Sachsen geprüft, sodass das Projekt derzeit über den Europäischen Sozialfonds und das Land Sachsen gefördert wird.

Funktionale Analphabeten – wieso gibt es sie in einem der ökonomisch stärksten Staaten der Welt, im Land Goethes und Schillers, Brechts und Grass‘?

Die Studie "Leo. Level One" der Universität Hamburg vom Februar 2011 belegt, dass 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung bzw. 7,5 Millionen Menschen in Deutschland trotz erfolgtem Schulbesuch kaum lesen und schreiben können und deswegen mit vielfältigen Schwierigkeiten in der Alltagswelt und auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. (Pressemeldung Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE) vom 02.03.2011). Die Mehrzahl der funktionalen Analphabeten hat eine problembeladene Lerngeschichte hinter sich. Bei den meisten wurden die Probleme beim Lesen und Schreiben in der Schulzeit nicht hinreichend beachtet oder therapiert. Die Jobsuche scheiterte dann oftmals schon an der schriftlichen Bewerbung. Außerdem mussten sie erfahren, dass in den meisten Tätigkeiten die Fähigkeit mit schriftlichen Texten umzugehen, wie zum Beispiel mit E-Mails, als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Da blieben viele Türen verschlossen.

Die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer/innen im Dresdner Alphabetisierungsprozess sind sehr verschieden, sodass eine differenzierte Arbeit notwendig ist. Einige Teilnehmer/innen hatten zu Beginn noch ausgeprägte Probleme im phonematischen Bereich, bis hin zu den Buchstabe-Laut-Beziehungen, andere zeigten deutliche Symptome einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, wie sie auch bei Schulkindern diagnostiziert wird. Viele Teilnehmer/innen konnten zwar einzelne Sätze, jedoch keine zusammenhängenden Texte lesen oder schreiben. Die Spanne reichte also vom „Lernanfänger“ mit schlechten Voraussetzungen bis zum Menschen mit einer meist sehr deutlich ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche.

Das Hauptziel unserer Maßnahme in Dresden ist es, den Teilnehmer/innen eine aktive Teilhabe in der Gesellschaft und den Wiedereintritt ins Arbeitsleben zu ermöglichen - eine Chance für die Betroffenen, die in den meisten Fällen von Hartz IV oder anderer staatlicher Unterstützung leben.
Neben der Verbesserung des Wissens und Könnens im Lesen und in der Rechtschreibung, ist auch die psychische Stärkung der Teilnehmer/innen von hoher Bedeutung.

In den ersten Tagen des Kurses kam es darauf an, die Beziehungen in der Gruppe zu gestalten und damit eine effektive Arbeit zu ermöglichen. Wer mit funktionalen Analphabeten arbeiten will, muss sich zudem darüber im Klaren sein, dass es sich um eine sensible Klientel handelt. Fast alle haben massive Frustrationen erlebt. „Schule“ und „Lernen“ sind deshalb oft negativ besetzte Begriffe.

Wenn die unzureichenden Schreib- und Lesefertigkeiten auch dazu führten, dass sie keine Berufsabschlüsse schafften und/oder seit Jahren arbeitslos sind, bleiben oft soziale und psychische Probleme nicht aus. Einigen Kursteilnehmer/innen fällt es aufgrund dieser Erfahrungen auch schwer, pünktlich zu sein und regelmäßig zum Unterricht zu kommen. Deshalb wird der Kurs über den gesamten Zeitraum durch einen Sozialpädagogen begleitet. Seine Aufgabe ist es, täglich neu zu motivieren. Dadurch erhöht sich die Chance, dass die Teilnehmer/innen durch diese Maßnahme ihr eigenes Leben wieder in den Griff bekommen, sich feste Strukturen und Gewohnheiten schaffen und damit aus dem Trott der letzten Jahre herauskommen.

Für die Motivation ist es auch wichtig, nicht nur anstrengendes Lese- und Schreibtraining zu absolvieren, sondern sich dabei mit Themen und Aufgaben zu befassen, die als wertvoll und lebensnah eingestuft werden: So spielen auch praktische Aufgaben wie das Lesen eines Backrezepts, über den Einkauf der Zutaten, bis hin zum Backen und gemeinsamen Verzehren des Kuchens eine Rolle. Ebenso erstellte die Dresdner Gruppe gemeinsam ein kleines Buch über ihre Heimatstadt Dresden. Viele schöne Geschichten wurden dazu zusammen getragen. Alle sind sichtlich stolz auf das gemeinsame Werk.

Nach neun Monaten bestätigt Frau H., dass es ihr keinesfalls geschadet hat, etwas zu lernen - im Gegenteil: Sie erhofft sich bereits jetzt deutlich bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz als zuvor. „Ich habe ja allerhand gelernt und kann jetzt auch viel besser mit anderen Menschen umgehen“, blickt sie mit Stolz auf die vergangenen Monate zurück und freut sich den Alphabtisierungskurs im Februar nächsten Jahres erfolgreich abzuschließen.